Das Restaurant Kronenhalle, ursprünglich als Hotel de la Couronne bekannt, wurde 1924 von Hulda und Gottlieb Zumsteg am Bellevue in Zürich übernommen und als Restaurant Kronenhalle neu eröffnet. Nach dem Tod ihres Mannes 1957, führte Hulda Zumsteg die Kronenhalle weitgehend alleine weiter und beseelte diese nachhaltig. Ihr Sohn Gustav war Seidenhändler und Kunstsammler. Er leitete unter anderen die Seidenfirma Abraham & Co. und arbeitete auch eng mit Modehäusern und Designern, darunter Yves Saint Laurent, zusammen. Nach und nach übernahm er Geschäftsführung der Kronenhalle, überliess jedoch wichtige Entscheidungen über den laufenden Betrieb seiner Mutter. Gustav Zumsteg selbst bescherte der Kronenhalle den bis heute spürbaren kosmopolitischen Hauch der Mode- und Kunstwelt. Das kulinarische Konzept der Zürcher Kronenhalle verbindet klassische Küche, traditionelle Schweizer Gerichte mit dem Charme französischer Brasseries und dezenter Eleganz, zu der auch die Kunstwerke z.B. von Picasso, Miró oder Chagall gehören, unter denen die Gäste speisen können.

 

Die Bewahrung der Gerichte in ihrer zeitlosen Raffinesse gleicht einem fein komponierten Gemälde, das den Gästen auch heute noch ein Fenster in die Ära von Hulda Zumsteg öffnet. Das ist bis heute die grosse Herausforderung und es war auch das Versprechen, das der Küchenchef der Kronenhalle, Peter Schärer, Gustav Zumsteg einst persönlich gab, als er Anfang der 1990er Jahre die Position des Küchenchefs übernahm. 

 

Schärer ist ein traditioneller, bodenständiger Handwerker, der die Grenzen der Welt zu umarmen vermag. Er lernte einst als junger Koch auch bei den Sterneköchen Max Kehl und Horst Petermann. Er ist ein präziser und konzentrierter Arbeiter, der das Herz am richtigen Fleck hat. Er redet Klartext, tanzt nicht um den heissen Brei herum und schenkt reinen Wein ein. 

Das Pauli Magazin hat mir Peter Schärer ein Gespräch über Beruf, Berufung und das Erlernen des Handwerks geführt.

 

Romeo Brodmann: Die Kronenhalle ist ein altehrwürdiger Betrieb, in dem ihr alles im Hause herstellt und kocht, auch um die Speisen genauso zu erhalten, wie sie bis in die 1980er Jahre unter Hulda Zumsteg zubereitet wurden, das musstest Du dem 2005 verstorbenen Gustav Zumsteg versprechen. Keine Convenience. 365 Tage vom Mittag bis nachts wird durchgehend von Grund auf zubereitet. Mit wie vielen Köchen müsst ihr welches Volumen bewältigen?

Peter Schärer: Wir sind im Moment 34 bis 35 Leute in der Küche. Es sind aber nicht alles gelernte Köche. Wer findet heute schon so viele gut ausgebildete Köche auf einmal. Und selbstverständlich gehören auch Mitarbeitende im rückwärtigen Bereich dazu sowie zwei Lernende.

Pro Tag benötigen wir etwa 20 Mitarbeitende in der Küche, um die Arbeit zu bewältigen. Das sind ca. 150 Essen am Mittag und am Abend 200 aufwärts. Insgesamt arbeiten beinahe 100 Angestellte in der Kronenhalle. Wir machen nicht nur das Essen selber, sondern beispielsweise auch die Wäsche. Der Betrieb ist also sehr personalintensiv und das ist etwas, was von aussen kaum wahrnehmbar ist.

 

RB: Interpretation ist der Prozess bei dem wir Erfahrung, Wissen, kulturellen Hintergrund etc. verwenden, um Ereignisse, Situationen, Umstände etc. zu analysieren, zu (er)klären und entsprechend anzuwenden.

Die Kunst des Kochens ist nämlich zuerst einmal nicht die Kreativität, sondern die faszinierende Mischung aus Präzision, Handwerk und Interpretation. Die Reproduktion von Gerichten erfordert nicht nur ein tiefes Verständnis der Zutaten und Techniken, sondern auch die Fähigkeit, diese unter sich verändernden Bedingungen anzuwenden.

Einverstanden? Trifft das in etwa auch auf die Kronenhallen-Küche zu?

PS: Das ist eine gelungene Auslegung, man könnte es nicht besser ausdrücken. Die grösste Herausforderung, die wir in unsere Küche haben, ist tatsächlich die Reproduktion in der Konstellation des geschichtsträchtigen Angebotes mit den sich verändernden Lebensmitteln, bzw. gewissen Lebensmitteln, die es heute in dem Zustand von damals nicht mehr gibt. Trotzdem müssen wir es immer wieder schaffen, den Charakter unserer Gerichte zu bewahren. Die Herausforderung ist es, zum Beispiel Ersatz für fehlende Produkte zu finden oder selber herzustellen, so dass der Gast nichts merkt.

Ich werde oft gefragt, ob das nicht langweilig ist, immer das Gleiche zu kochen. 

Diese Reproduktion ist für mich eine Kunstform, die uns hier Freude bereitet. Im Übrigen, wir sind im kleinen Rahmen durchaus auch kreativ. Es gibt diese Spielräume. Doch wenn wir kreativ waren, müssen wir das entstandene Gericht auch wieder reproduzieren.

Dazu bekomme ich viele positive Rückmeldungen, seit der SRF Doku noch verstärkt. Dies vor allem aus der Altersgruppe der 60- bis 80-Jährigen. Da habe ich wohl einen Nerv getroffen. Die finden das alles wunderbar, wie wir das handhaben und bestärken mich, so weiter zu machen. Eine Dame schrieb mir konkret, sie habe im Alter von 25 Jahren mit ihrem Vater das erste Mal in der Kronenhalle gegessen. Bis heute, jedes Mal, wenn sie wiederkomme, sei es noch wie anno dazumal. Das sei wunderbar. Für mich ist das eines der grössten Komplimente und eine der besten Erklärungen für die Kunst, für welches Ergebnis wir unser Handwerk einsetzen: Wir schaffen immer von neuem ein Erlebnis, das die Gäste in eine vergangene Zeit zurückversetzt.

 

RB: Reproduktion setzt das Verständnis und die Beherrschung des Handwerkes voraus…

PS: Ja. Die Grundzubereitungsarten oder der Saucenaufbau zum Beispiel. Das muss man richtig gelernt haben, damit man es anwenden kann. Dann kann man die Prozesse der Zubereitung steuern und das Endergebnis beeinflussen. Damit können wird eben zum Beispiel die Veränderungen von Lebensmitteln dahingehend ausgleichen, sodass wir immer wieder dasselbe Resultat erreichen. 

 

RB: Ich kam 1983 in die Lehre, Hulda Zumsteg verstarb 1984. Mein Lehrmeister lehrte selber im Flughafenrestaurant Zürich, als es noch eines gab. Er hatte, wie er es selber belustigend formulierte, von einem Kollegen eines Kollegen, der in der Kronenhalle gearbeitet hat, ein abgeschriebenes «Originalrezept Mousse aus Chocolat» von Hulda Zumsteg. Ich habe es damals als Lehrling sofort von ihm abgeschrieben. 

Ich habe Dir hier meinen persönlichen Rezeptordner, den wir als Lehrlinge führen mussten, den kennst Du ja noch, oder?

PS: (Lacht) Ja, den kenn ich noch.

RB: Hier also das vermeintliche «Originalrezept Mousse au Chocolat» von Hulda Zumsteg. Kannst Du es Dir mal anschauen und allenfalls verifizieren?

(Ich lege Peter Schärer den aufgeschlagenen Ordner vor. Peter Schärer lacht und begutachtet das Rezept.)

PS: Das mit dem Mousse au Chocolat ist ja bei uns ein grosses Geheimnis. Und wenn ich das Rezept in deinem Ordner so anschaue, dann kommt das dem Original ziemlich nahe (Anm.: Nein, das Rezept gibt Brodmann nicht heraus).

 

RB: Was steht denn eigentlich für eine Geschichte hinter dem Schoggimousse?

PS: Als ich 1991 hier angefangen habe, arbeitete der Patissier, der es entwickelte, noch hier. Herr Zumsteg kam Ende der 1950er aus Paris zurück nach Hause und sagte seiner Mutter, er habe in Paris eine spezielle, luftige Schokoladencreme gegessen, diese müsse sie unbedingt auf die Karte nehmen.

Hulda Zumsteg schickte den Patissier nach Paris, um das Rezept in Erfahrung zu bringen. Er ass in dem Restaurant, fragte nach dem Rezept und … erhielt es natürlich nicht. Er ist also unverrichteter Dinge wieder nachhause zurückgekehrt und fing an, das Dessert aus der Erinnerung heraus zu entwickeln. 

Auch wenn es in der Zwischenzeit die qualitativ hochstehende Couverture von damals in der bestimmten Qualität nicht mehr gibt, wir bereiten dieses Dessert hier seit Anfang der 1960er zu, und zwar genau so, wie es damals war. Damit wären wir wieder bei Thema Reproduktion.

 

RB: Genau. Das Mousse au Chocolat wird z.B. meist mit Eigelb zubereitet. Eigelb verbindet mit dem Lecithin Fette mit den wässrigen Bestandteilen und stabilisiert sie. Es verhilft dem Mousse zu einer glatten und homogenen Textur, steigert die Cremigkeit und Reichhaltigkeit, und es wirkt verdickend.

Ich habe auch schon Mousse-Alternativen gesehen, in denen das Eigelb im Wasserbad mit Zucker warmgeschlagen und anschliessend kalt geschlagen wurde. Die Grundzubereitungsart wäre dann Pochieren im Wasserbad mit Bewegung. Jetzt haben, entschuldige meinen Sarkasmus, ganz schlaue Köpfe für das neue Berufsleitbild die Grundzubereitungsart «Pochieren im Wasserbad mit Bewegung» gestrichen. Diese Grundzubereitungsart gibt es jetzt also offiziell nicht mehr. Also gibt es auch keine Hollandaise, Béarnaise, keine Weinschaumcreme und auch keine Weinschaumsauce oder Genueser Biskuit mehr. Du bildest bei Dir in der Kronenhalle auf höchstem handwerklichem Niveau Lehrlinge aus. Was hältst du von solchen Super-Coups? Werden die Lehrlinge jetzt effizienter, weil «Pochieren im Wasserbad mit Bewegung» als überflüssiger Wurmfortsatz entfernt wurde?

PS: Dafür habe ich kein Verständnis. Das ist die Grundlage. Das Basiswissen eines Koches muss vollständig sein. Zumal es sich nicht um irgendwelche konzipierten Theorien handelt, sondern um in der Praxis entstandene Erfahrungswerte und Fixpunkte.

In dieselbe Richtung geht ja auch die Sache mit der Sauce Béarnaise und Hollandaise. Das sind nun mal zwei unterschiedliche Saucen, deren Grundstruktur durch die unterschiedliche Reduktion festgelegt wird. Trotzdem gab vor einigen Jahren plötzlich nur noch eine Sauce: Eine Hollandaise wurde durch die Zugabe von gehacktem Estragon zur Béarnaise als Ableitung degradiert. Das ist einfach falsch. Ich hab einen, der da mitgemischt hat, einmal gefragt, weshalb. Die Antwort war: Weil das heute im Betrieb nicht mehr gemacht wird und nicht mehr zeitgemäss ist. Das kann doch nicht sein, das ist Unterschlagung von Wissen.

Oder das Pochieren, das ist ja auch so eine Sache. Fisch pochieren heute die meisten im Kombisteamer und nicht mehr in der gebutterten Sauteuse mit gehackten Schalotten, wenig Fond oder Weisswein und mit Butterpapier bedeckt.

Aber wieso soll man nicht lernen, wie es richtig gemacht wird?

Aber ja, ich verstehe natürlich schon, dass, wenn man von der Pike auf alles selber macht, das mit Arbeit und einer heute ungewohnten Kostenstruktur verbunden ist. In Zeiten von Fachkräftemangel ist die Versuchung gross, Kompromisse einzugehen, die der Qualität abträglich sind.

 

RB: Findest Du eigentlich genug Lernende? Die müssten ja Schlange stehen bei Dir.

PS: Nein, das ist leider nicht so rosig, wie Du das siehst. Ich würde gerne noch ein bis zwei Lernende zusätzlich einstellen, wenn wir sie denn finden würden. 

Letzthin hatten wird auch einen jungen Mann hier in der Schnupperlehre. Ich habe ihm den zeitlichen Ablauf geschildert und dass wir nach der Zimmerpause um halb sechs Uhr wieder mit der Arbeit für den Abendservice anfangen. Er war vollkommen überrascht und sagte, er habe nicht gewusst, dass am Abend gearbeitet werde. Sie wollen zwar Koch werden, wissen aber nicht oder vergessen dabei solch elementare Dinge wie, dass wir dann arbeiten, wenn die Menschen essen möchten, und das ist nun mal in der Regel am Mittag und am Abend.

Aber ja, ich finde schon noch Lernende, mit denen ich glücklich bin und die mit uns hier glücklich sind, aber es wird zunehmend schwerer.

 

RB: Aber eines darf man ja konstatieren, wenn jemand junge Menschen in der Kronenhalle den Beruf Koch/Köchin EFZ erlernen dürfen, dann haben sie den vollständigen Koch-Rucksack fürs Leben?

PS: Das ist richtig. Sie dürfen, sie sollen, sie müssen. Darüber hinaus, den Vorteil, den Lernende bei uns ebenfalls haben: Sie kommen hier rein und haben drei Jahre lang dieselbe Bezugsperson und nicht alle Jahre einen neuen Küchenchef. Okay, wenn du ein Problem hast, dann hast du drei Jahre ein Problem (lacht). Aber nein, wenn sie oder er bei uns die Lehre abgeschlossen hat, können sie in die Welt hinaus und überall arbeiten.