Die Guten Alten gehen und mit Ihnen Wissen und Geschichten. Im kleinen Weiler bei Maloja im Oberengadin produzierte Renato Giovanoli (1934-2020) bis vor drei Jahren köstliche Würste und Bündnerfleisch. Ein grosses Wohnhaus, viele alte Steinhäuser, eine Räucherkammer, ein Ferienhaus. Dazwischen fünf Schweine und hinter den Häusern der Inn. Wäldern, Wiesen und Felsen, fast eine Alp. Dort lebte der Metzger und Bauer 85 Jahre lang. Am 16. März 2020 ist er friedlich gestorben.

 

Es sind die kleinen Dinge, die viel über einen Menschhen sagen: Der Italienische Leitspruch nahm in Giovanolis Metzgerei eine besondere Stellung ein:

Der Staat verweigert die Freiheit
Freiheit verweigert den Staat

 

 

Von Urs Oskar Keller: Erinnerungen an meinen letzten Besuch in seiner Metzgerei im Weiler Pila im Oberengadin vor vielen Jahren und mein Bericht dazu.

Wo sind die Familienbetriebe mit Tradition geblieben? Das Verschwinden der kleinen Metzgereien und Käsereien ist beklagenswert. Seit Jahren sind Feinschmecker und andere qualitätsbewusste Verbraucher und Konsumentinnen auf der Suche nach Betrieben, in denen Lebensmittel in kleiner Serie in Handarbeit hergestellt werden. «Und lieber kaufen sie ihren Grappa beim Schnapsbrenner im Piemont, wo die Spinnweben dicht wie Gardinen vor den Fenstern hängen, als dass sie den hygienisch abgefüllten Trester eines Markenbrands tränken. So ist es bei den Käseherstellern, den Hühnerzüchtern und den Wurstmachern», bemerkte der inzwischen verstorbene Gastronomiekritiker Wolfram Siebeck (1928-2016) von der Wochenzeitung «Die Zeit» in Hamburg. Ein Familienbetrieb mit Tradition, das wissen anspruchsvolle Esser und Geniesser heute, produziert bessere Waren als die grossen Fabriken. Deshalb fahren wir in die tiefste Provinz und suchen Metzger, die noch selbst schlachten. Mit ihnen kann man über die Rasse der Schweine, Rinder und Schafe reden, sie kennen den Bauern und wissen, dass die Tiere in der freien Natur weiden durften. 

Eine Institution im Engadin

Wir haben vor neun Jahren einen gefunden. Im Weiler Pila, von Maloja Posta aus in wenigen Minuten auf steiler Naturstrasse mit Wanderschuhen oder 4×4 Geländewagen zu erreichen, lebt und arbeitet Renato Giovanoli, Jahrgang 1934, Bauer und Metzger mit seiner Familie. Eine Institution für Würste und Trockenfleisch im Oberengadin. Wer ihn trifft, glaubt tatsächlich einen Nachfahren von Karl Marx vor sich stehen zu haben. Grau sind seine ehedem pechschwarzen Haare geworden, die hinter seiner Mütze hervorschauen. Wer in seine Metzgerei eintritt, wird mit einem an der Wand aufgehängten, anarchistischen Ausspruch konfrontiert: «Lo stato nega la libertà – la libertà nega lo stato». Das Zitat hat aber nichts mit seinen politischen Ansichten und schon gar nichts mit seinen Salsizen zu tun, bemerkt Giovanoli verschmitzt.

Seine Würste sind rare Delikatessen

Der Bauer und Metzger verbrachte sein ganzes Leben in Maloja und im Bergell, genau unter der Quelle des Inn, auf 1'815 Metern über Meer. Hier werden noch nach alter, überlieferter Tradition Bündner Spezialitäten wie zum Beispiel luftgetrocknete Leber-, Gems-, Wildschwein- und Hirschwürste sowie Salsiz hergestellt, eine Rohwurst aus Schweins- und Rindfleisch. Das erstklassige Bündnerfleisch hängt bis zu vier Monaten an der frischen Engadiner Luft. Das Fleisch – er hält heute nur noch einige glückliche Schweine in Pila – muss er im Unterland kaufen. Seine Würste sind rare Delikatessen, seine Salsiz gelten gar als die besten im Engadin, das Bündnerfleisch ist lukullisch. Die Zubereitung, vor allem bei den Würsten, ist aufwendig: Die Würste müssen knapp einen Tag lang über glimmenden Wacholderzweigen und Sägemehl einheimischer Tannen geräuchert, anschliessend gepresst und sechs bis acht Wochen auf dem Dachboden getrocknet werden.

Liebe zum Handwerk

Das alles von einer Qualität, die seinesgleichen sucht, von einem Geschmack, den man fast nirgends mehr findet. «Man hat fast das Gefühl, man könne die Kräutlein schmecken, die das Tier sich im Sommer auf der Alpweide einverleibt hat», schildert ein Kollege. Eine Räucherkammer, so schwarz wie des Teufels Seele.

Bei Renato Giovanoli spürt man die Leidenschaft für die Arbeit und die Liebe zum Handwerk – bei ihm schmeckt und sieht man sie! Wer einmal seine Produkte probiert hat, kehrt immer wieder an den wunderschönen Ort zurück. Auch wegen dem Bündnerfleisch, das schön unter seinen Holzdächern des Oberengadins trocknen…Bündnerfleisch ist das Zugpferd des Schweizer Fleischexportes.

«Angestellte wollte ich nie» 

Mit Renato Giovanoli konnte mal philosophieren, über Gott und die Welt reden – auf Italienisch oder auf Deutsch. Aus Giovanoli sprachen Demut, Zurückhaltung, Fleiss und Disziplin – «Werte, die es braucht, möchte man die langen und harten Engadiner Winter überstehen und einen Metzgerbetrieb in hohem Alter allein führen», wie ein Kollege schrieb. Die Strasse räumte er immer selbst mit seinem eigenen Schneepflug. Und auch in der Metzgerei wollte er sich nie helfen lassen. Einer Berliner Zeitung sagte er vor einigen Jahren: «Angestellte wollte ich nie, und ich glaube, das hätte ich auch nie gekonnt. Ich bin es gewohnt, immer allein zu arbeiten. Mit anderen Leuten ist es nicht so einfach.»

Aromafreie Würste…

In ihrer unermüdlichen Fürsorge hat die EU-Kommission eine neue Verordnung erlassen, die unser Leben als Verbraucher wenn nicht verlängern, so doch sicherer machen soll. Sicherheit aber bedeutet für unsere Vertreter in Brüssel bekanntlich Hygiene. Also kämpfen sie für keimfreie Produkte wie aromafreie Würste, schimmelfreien Käse und fettfreien Speck. Nicht aber für chemiefreie Produkte, nein, das beileibe nicht. Dafür sorgen schon die ebenfalls in Brüssel lebenden Lobbyisten. Für den deutschen Gastronomiekritiker Wolfram Siebeck von der «Zeit» und dem «Feinschmecker» in Hamburg war klar: «Hygiene bedeutet nach EU-Norm, dass kein Europäer irgendetwas essen darf, aus dem ein Terrorist eine Bombe basteln oder ein Gourmet Genuss gewinnen könnte. Und um das zu erreichen, gibt es offenbar kein besseres Mittel, als alle Handwerksbetriebe zu schliessen oder es jenen, die derartige Bakterienbrutstätten betreiben wollen, besonders schwer zu machen. Denn, sagt sich die EU, handgemachte Produkte sind unhygienisch.» Die Verordnung, von der Siebeck sprach, trat 2010 in Kraft und richtet sich gegen Metzger, die selbst schlachten wollen. Das dürfen sie jetzt nur noch, wenn sie verschärfte Hygieneauflagen erfüllen.

Es geht in der Tat um die Wurst

Wehmütig erinnert sich nicht nur Siebeck an eine Epoche, in der es solche Metzger noch in jedem Ort, in jedem Dorf gab. Als der Schlachttag noch von einer Nachbarschaft gefeiert wurde, die mithalf beim Auffangen des Blutes, beim Zubereiten des Kesselfleischs und beim Stopfen der Würste. Total unhygienisch, das Ganze. Aber wie viel Lebensfreude entstand dabei, wie viel Verständnis für das Essen als Mittelpunkt unseres Lebens! Wolfram Siebeck: «Gesundheitliche Folgen hatten Schlachttage nur für die geschlachteten Tiere; die Menschen litten höchstens unter dem Alkohol, den sie auf das Wohl der heiligen Hygiena tranken. Solche Idyllen sind heute fast verschwunden, dafür haben automatisierte Schlachthöfe gesorgt. Den Rest erledigen nun die hygienefixierten EU-Beamten.»

Es geht in der Tat um die Wurst – um dieses universelle, weit unterschätzte Kulturgut, die Legende unter den Lebensmitteln. Ob Olma-, Blut- oder Brat-, die Wurst ist in aller Munde. Nur der liebe Gott weiss, was in ihr steckt: Auch wenn diese Redensart zum Siegeszug der Wurst beigetragen hat, löst sie heute Bedenken aus. 

Betrieb seit 2017 geschlossen

2017 hat Renato Giovanoli seinen Betrieb offiziell geschlossen. Einen Nachfolger gibt es nicht. Es habe Leute gegeben, die Interesse hatten. Daraus ist nichts geworden, auch weil ich das nicht wollte. Es ist eine Mischung aus nicht wollen und nicht finden, sagte Giovanoli damals. Seine Tochter Tanya Giovanoli, Metzgerin, führt in Reichenau GR, am Zusammenfluss des Vorder- und Hinterrheins in der Gemeinde Tamins, die Metzgerei «Meat design – Feischveredelung der besonderen Art».

«Una persona storica per Maloja»

Wir werden den kauzigen und sensiblen Menschen Renato und auch seine mit Leidenschaft und Können hergestellten Delikatessen vermissen. Gioconda Leykauf-Segantini, die Enkelin des Malers Giovanni Segantini aus Maloja, schrieb auf Facebook: «Con grande tristezza leggo della morte del caro Renato, era una persona storica per Maloja, un molto caro amico per me, una persona indimenticabile – mancherà moltissimo, ma nel cuore rimane vivo. Sono vicina a tutta la famiglia con i miei più cari e sentiti pensieri.»(Frei übersetzt: «Mit grosser Trauer las ich über den Tod des lieben Renato, er war eine historische Person für Maloja, ein sehr lieber Freund für mich, ein unvergesslicher Mensch – er wird sehr fehlen, aber in unseren Herzen wird er weiterleben. Ich bin der ganzen Familie mit meinen liebsten Gedanken nahe.»)

«Aktuell ist es aufgrund des Coronavirus nicht möglich, sein Leben im grösseren Kreis zu würdigen. Eine Gedenkfeier möchten wir nachholen, sobald es die Umstände erlauben», schreibt die Familie Giovanoli-De Cauter. Deshalb bittet die Trauerfamilie Bekannte und Freunde, sich unter www.renatogiovanoli.ch zu registrieren, damit man über die geplante Gedenkfeier informieren wird.

 

 

Todesanzeige Renato Giovanoli vom 26. März 2020

Herr, lass mich werden, der ich bin

In jedem Augenblick.

Und gib, dass ich von Anbeginn

Mich schick in meinem Geschick.

 

Ich spür, dass deine Hand mich hält

Und führt, –bin ich auch nur

Auf schwarzem oder weissem Feld

Die stumme Schachfigur

Mascha Kaléko

 

Renato Giovanoli

8. Mai 1934 –16. März 2020

In der Nacht vom 15. auf den 16. März 2020 ist Renato Giovanoli im Spital von Samedan friedlich und ohne Schmerzen gestorben. Wir sind traurig und vermissen ihn sehr.

Unserer erweiterten Familie, unseren Freunden und Bekannten und allen die Renato nahe standen, danken wir für ihre Unterstützung.

Wir haben uns von Renato im engsten Familienkreis verabschiedet. Seine Asche werden wir, wie er es sich gewünscht hat, in Pila beisetzen.

Aktuell ist es aufgrund des Coronavirus nicht möglich, sein Leben im grösseren Kreis zu würdigen. Eine Gedenkfeier möchten wir nachholen, sobald es die Umstände erlauben.

Deshalb bitten wir Bekannte und Freunde herzlich, ihre Email und/oder Adresse auf dem untenstehenden Link zu registieren, damit wir uns melden können, sobald wir eine Gedenkfeier planen können.

www.renatogiovanoli.ch/