Romeo Brodmann: Macht es eigentlich einen Unterschied, ob man im Berufsleben mit Gault-Millau-Punkten «aufwächst» oder nicht?

Christian Nickel: Das kann ich so nicht sagen, denn ich hatte alles. Ich durfte damals meine Lehre im besten Restaurant im Norden Deutschlands machen. Das Romantikhotel Schmiedegasthaus Gehrke in Bad Nenndorf war ein Familienbetrieb und neben dem mit 1 Michelin-Stern und 18 Gault-Millau-Punkten dekorierten Restaurant gab es noch eines mit 16 GM-Punkten und eines mit bodenständiger Kost von Bratkartoffeln bis Spaghetti. Es wurde noch alles bis zur Kartoffelkrokette von Grund auf hergestellt und wir konnten alles von der Pike auf lernen. Dieses grosse Ganze begleitet mich bis heute.

RB: Koch ist ja immer noch ein harter Beruf. Haben sich die jungen Menschen, die sich für diesen Beruf entscheiden, verändert?

CN: Ich sehe im Nachwuchs auch das Abbild, wie wir waren. Genau gleich. Man darf das nicht unterschätzen. Das sind ja eigentlich noch junge Heranwachsende, die ins Berufsleben einsteigen. Die wollen manchmal noch Kinder sein und dürfen das auch, das muss Platz haben. Wobei in der Schweiz sind die Lernenden mit 14, 15 Jahren oftmals noch jünger als in Deutschland. Die wissen manchmal, warum sie das machen, sehr oft aber auch noch nicht. Ich habe Respekt vor den jungen Menschen, die sich für diesen Beruf entscheiden.

RB: Wenigstens hat sich gegenüber früher der Ton in der Küche geändert.

CN: Ich weiss noch ganz genau im 3. Lehrjahr, an einem Tag auf dem Entremetier, als wir so richtig am Schwimmen waren und ich nicht ganz bei der Sache war. Ich verkneif mir jetzt, was ich zu hören bekam. Aber ich habe mich da schon gefragt, wo ich hier bin und was ich hier mache.

 

Foto: Martina Meier | Christian Nickel, Executive Chef.

 

RB: Haben Sie eine Empfehlung, wenn jemand Koch lernen will?

CN: Ich sag immer allen, die Koch lernen wollen: Wenn ihr die Chance habt, noch ein Jahr zu warten, macht das. Geht ins Ausland und lernt eine Sprache oder sowas. Das stärkt den Rücken.

RB: Gut, ein Vorteil hierzulande ist ja unser Ausbildungssystem, das hilf den Jungen schon viel.

CN: Stimmt. Zum Vergleich: Als ich nach Spanien ging, war ich mit deren Ausbildungssystem konfrontiert. Das war ungefähr so angelegt: Ein Jahr lang geht man mit einer Gruppe gewisse Themen durch, das ist so eine Art Culinary School. Eine Woche lang wird das Thema Hühnchen durchgenommen. Da stehen dann schon mal ein paar Leute einen Tag lang um drei Hühnchen herum.

RB: Aber wo Sie gekocht haben, war das Niveau ganz offensichtlich höher. 

CN: Das Kempinski Resort Hotel Estepona in Malaga wurde damals neu eröffnet und das Niveau war schon recht hoch. Wir haben uns da alle an uns Deutschen, Schweizern und Österreichern orientiert, die wir da waren. In Andalusien war das damals so.

Dann ging ich weiter nach Mallorca ins The St. Regis Hotel Mardavall ins Restaurant Es Fum. Damals holten sie den 2. Stern, das war schon sehr ambitioniert. Für mich war das wichtig, weil sie schon Anfang der 2000er Jahre euro-asiatisch gekocht haben. Das hat Spass gemacht. Ein Spass war auch St. Tropez im Restaurant Lei Mouscardins mit 2 Sternen und 17 GM-Punkten. Verdient habe ich damals als Commis de Cuisine 1100 Euro, das kleine Zimmer hat 1400 Euro gekostet und den Espresso am Hafen für 12 Euro habe ich nur einmal bestellt. Da hast du geschaut, dass du auf der Arbeit viel isst. Nach einem Sommer war dann aber Schluss. Das machte so keinen Sinn.

RB: Sie haben In der Traube Tonbach gearbeitet. Das war noch unter Harald Wohlfahrt?

CN: Ich habe in der Hauptküche für die Köhlerstube gearbeitet. Diese war mit 16 GM-Punkten ausgezeichnet. Harald Wohlfahrt war in der Schwarzwaldstube.

RB: Und wie waren die Einflüsse von Wohlfahrt damals auf das Hotel und die anderen Restaurants?

CN: Diesen Einfluss gab es nicht. Es waren alles eigenständige Bereiche, die klar voneinander getrennt waren. 

RB: Sie bewegten sich also in einem Hotel zwischen verschiedenen Restaurants, verschiedenen Stils, verschiedenen Küchenchefs und verschiedenen Auszeichnungen? Hilft Ihnen diese Erfahrung aus der Traube heute?

CN: Ja klar, vor allem die Erfahrung, wie es nicht sein sollte, ohne das jetzt werten zu wollen. Zur damaligen Zeit war diese Abschottung untereinander für die Traube Tonbach vermutlich richtig. Zu dieser Zeit wurden ja überall auch für drei offene Stellen gleich sechs Köche eingestellt, weil man wusste, einer taugt nichts und zwei würden es fachlich und vom Druck her nicht schaffen. 

RB: Falls solche Situationen Kopfschmerzen bereiten, Echtes Mädesüss hilft. Echt. Das Kraut wird auch Spiere genannt, nachdem Aspirin benannt wurde. Hat denselben Wirkstoff. Im Ernst, das ist ganz offensichtlich nicht Ihr Stil.

CN: Nach meinem Dafürhalten entspricht das keiner modernen Unternehmenskultur, und mir selber schon gar nicht. Wir haben doch keine Geheimnisse, wieso soll ich den anderen gewisse Rezepte nicht geben? Was hat das für einen Sinn? Wir müssen uns doch an neuen Dingen weiterentwickeln.

RB: Was bedeutet der Bocuse d’Or für Sie, was hat der Wettbewerb für einen Stellenwert?

CN: Ich habe den grössten Respekt vor den Teilnehmenden und ihrem Engagement. Die meisten leisten ja schon im Berufsalltag wirklich aussergewöhnliches. Und dann geben sie ihre Freizeit hierfür her. Das in einer Zeit, in der die Freizeit den jungen Menschen immer wichtiger wird und die Work Life Balance absolut im Vordergrund steht. Das sind für mich Berufskolleginnen und -kollegen, die auf dem Sprung zu Grossem sind. Viele machen das auch zur richtigen Zeit. Ich habe zwei Kinder zuhause. Ich wüsste gar nicht, wie ich das machen sollte, um so viel trainieren zu können.

RB: Neben den Sponsoren gibt es auch noch solche, die mit Hilfestellung unterstützen. Patrick Mahler, der Küchenchef des Restaurant focus ATELIER vom Parkhotel Vitznau, hilft Christoph Hunziker in den Vorbereitungen. Hat das für Sie und für das Parkhotel Vitznau eine prägnante Bedeutung?

CN: Unser Firmengrundsatz heisst Vergangenheit bewahren und Zukunft gestalten. Es gibt wohl kaum passendere Wettbewerbe als den Bocuse d’Or. Dieser bewahrt die Kochkunst und die Geschichte und trägt sie gleichzeitig in die Moderne. Die Köchinnen und Köche, die Wettbewerbsteilnehmenden, erfinden sich Mal für Mal neu und brechen auch Strukturen immer wieder auf.

Als Genussunternehmen haben wir da eine Verantwortung und damit eine Funktion. Es ist für uns Ehrensache, dass wir Christoph Hunziker maximal unterstützen mit allem, was irgendwie möglich ist.

RB: Es ist für Sie also kein Problem, dass Patrick Mahler hin und wieder weg ist?

CN: Überhaupt nicht, im Gegenteil. Wir fördern und unterstützen ja selber solche Engagements. Raúl Garcia jetzt gerade die Schweizer Auswahl gewonnen beim St. Pellegrino Young Chef Academy Competition. Er geht jetzt weiter ins Weltfinale. Das ist doch toll für uns, solche jungen Talente zu entwickeln und ihnen die Möglichkeit zu geben, an solchen Wettbewerben mitzumachen.

RB: Sie pflegen also, um nochmals drauf zurückzukommen, im Parkhotel Vitznau unter den Restaurants einen offenen Kommunikationsstil. Können alle alles Wissen von allen abholen?

CN: Warum soll ich irgendwelche Geheimnisse wahren? Wieso soll ich meine Rezepte zurückbehalten, wenn wir uns und die Zukunft entwickeln wollen und uns damit sowieso verändern? 

RB: Wiegeln sich die Betriebe gegenseitig auch immer zu mehr Leistung auf? Hat der ausserordentliche kulinarische Erfolg des Parkhotel Vitznau damit zu tun?

CN: Ich glaube, es hat mit der Konstante der Offenheit gegenüber Talenten zu tun. 2012 kam Nenad Mlinarevice zu uns ins foucs ATELIER. In seinen fünf Jahren hier erhielt er die Auszeichnung «Koch des Jahres. Als er 2017 ging, benötigten wir eine Nachfolge. Mit Patrick Mahler hatten wir aus den eigenen Reihen bereits das neue Talent, das diese kulinarische Herausforderung übernehmen konnte. Vergangenheit bewahren, Zukunft gestalten und Talente fördern. Das ist Entrepreneurship. Und es fühlt sich toll an.

RB: Bei diesem kulinarischen Niveau müssen Sie überhaupt Geld verdienen? Oder ist es einfach wichtig, dass Sie gut kochen - als Teil des Hotel-Marketings?

CN: Nein, es reicht nicht, wenn wir einfach schön und gut kochen. Die Zahlen müssen auch stimmen. Wir funktionieren als unternehmerische Einheit. Wenn wir gut gearbeitet, gut gewirtschaftet und Ende Jahr Gewinn gemacht haben, können wir im besten Fall unsere Mitarbeitenden am Gewinn beteiligen. Am Erfolg beteiligte Mitarbeitende werden so zu Mitunternehmerinnen und Mitunternehmer.

RB: Sie bieten fruchtbaren Boden. Da geht die Saat auf.

CN: Ich möchte von meinen Mitarbeitenden immer wissen, was ihr Ziel ist. Wenn ich die Ziele meiner Mitarbeitenden kenne, kann ich ihnen helfen diese zu erreichen. Und so werden alle ihr Bestes geben. Davon bin ich zu hundert Prozent überzeugt.

RB: Und Patrick Mahler ist auch so ein Beispiel?

CN: Er kam aus dem 2-Sterne-Restaurant Ecco des Hotels Giardino in Ascona zu uns. Ich fragte ihn, was sein Ziel sei. Zusammen haben wir dann sein Ziel festgelegt: In drei oder vier Jahren in der Lage zu sein, den Betrieb im Hotel Vitznau als Executive Chef zu führen.

RB: Aber es ist anders gekommen.

CN: Naja, das Leben ist keine Einbahnstrasse und schon gar keine Sackgasse. Er war zwei Jahre als Sous-Chef in der Hauptküche, als wir merkten, dass er ein Typ ist, der alles unter Kontrolle haben muss. Das System 80/20 20/80, wie es für eine grosse Hotelküche Voraussetzung ist, das war nicht sein Ding. Patrick hat immer 110 Prozent auf der Uhr. Es macht ihn kirre, wenn etwas nicht so ist, wie es sein soll. Daraufhin haben wir ihn zum Sous-Chef im Prisma entwickelt, danach wurde er Küchenchef im Prisma bis wir dann merkten, dass er mit angezogener Handbremse fuhr. Küchenchef im Restaurant focus war die logische Konsequenz. Und das Resultat ist offensichtlich. Hinter Entwicklungen stehen halt immer auch Prozesse, die am Anfang nicht ersichtlich sind.

 

Foto: Beat Brechbühl | Park Hotel Vitznau, Ansicht vom See.