Das Interview entstand an Weihnachten 2010. Inhalt und Aussagen von Paul Bocuse, insbesondere zur Ausbildung sowie zum Handwerk des Kochs und zur Entwicklung der Branche sind Zeitlos, haben wegweisenden Charakter und sind aktueller den je. Nachfolgend das unveränderte Gespräch.

Mehrere Brasserien in Tokyo und den USA. Einige in Lyon und seit Juni 2008 auch eine in Genf. Das Neueste: Der «Cesar Burger Rossini» aus seinem ersten Lyoner Edel-Fast-Food-Geschäft «l’Ouest Express». Mit seinem Institut für Hotellerie und kulinarische Kunst, dem Forschungsinstitut für gesunde Ernährung sowie den Kochweltmeisterschafen «Bocuse d’Or» hat Paul Bocuse nicht einfach ein Imperium geschaffen, sondern die tiefen Emotionen einer globalen Branche ganzheitlich vernetzt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Das Zentrum des modernen, gastronomischen Universums ist Paul Bocuse. Ein Besuch in seiner l’Auberge du Pont de Collonges nahe Lyon.

Romeo Brodmann: Auf die Frage, wer denn koche, wenn Sie nicht da sind, antworteten Sie schon: «Derselbe, der kocht, wenn ich da bin.» Sie kreieren aber noch kulinarische Kunstwerke?

Paul Bocuse: In meinem Haus hier in Collonges habe ich ein Team, das sich zu grossen Teilen aus «besten Arbeitern Frankreichs» (meilleurs ouvriers de France) zusammensetzt. Niemand sonst hat so ein Team. Das ist ein Kunstwerk. Und das ist der Grund, weshalb Bocuse Erfolg hat.

Brodmann: Das lässt die Interpretation zu, dass die kulinarische Kreation per se nicht alleine selig machend ist.

Bocuse: Nun ja, wir haben hier eine sehr traditionelle, klassische Küche beibehalten, die in ihrer Art absolut unverkennbar ist. Und das dauert jetzt schon 50 Jahre an. Ich bin wohl sicherlich der einzige Restaurateur mit drei Sternen, welcher dieselben Gerichte anbietet, mit denen er angefangen hat. Zudem haben wir die drei Sterne jetzt dann seit 45 Jahren.

Brodmann: Demzufolge müsste die Konstanz eine der Haupterrungenschaften ihres Lebens sein. Ist das so?

Bocuse: Und Vertrauen. Das kommt ein bisschen daher, dass ich mich Zeit meines Lebens mit den besten Mitarbeitern umgeben habe und meine Verantwortlichkeiten auch konstant zu delegieren verstand. Zurzeit arbeiten sieben «beste Arbeiter Frankreichs» in meinem Haus. Das ist enorm.

Brodmann: Gibt es etwas im kulinarischen Bereich, das Sie nie getan oder aus- probiert haben, das Sie aber schon immer tun wollten?

Bocuse: Alles wozu ich Lust hatte, habe ich auch gemacht. Ich würde alles wieder genauso tun, wenn ich von vorne beginnen könnte.

Brodmann: Arbeits- oder auch Erwartungsdruck ist eine starke Kraft, mal Antriebsgenerator, mal erdrückende Last. Was hat das für Sie für eine Bedeutung?

Bocuse: Sehen Sie, jetzt tritt die Ganzheitlichkeit eines gefestigten Teams in Erscheinung. Die Gastronomie ist ein ziemlich schwieriges Metier, nicht zuletzt weil täglich derselbe Kreislauf von vorne beginnt. Es braucht die Motivation und den Zusammenhalt des Teams, um dem Arbeitsdruck stand zu halten. Bocuse alleine kann nichts ausrichten.

Brodmann: Aber den Erwartungsdruck an einen Bocuse kann auch ein Team nicht abnehmen...


Bocuse: Wenn Sie so wollen. Aber schauen Sie, ich bin 83 und den Druck habe ich schon seit 45 Jahren.

Brodmann: Bestimmen Sie die Institution Bocuse oder bestimmt sie Ihr Leben?

Bocuse: Das alles hängt zusam-men. Wir achten darauf, im Bestreben nach guter Arbeit unsere klare Linie zu halten. Disziplin spielt dabei eine übergeordnete Rolle. Alle wissen, was sie zu tun haben, und halten sich genau an ihre Aufgaben.

Brodmann: Sie haben bereits als Jugendlicher bei Ihrem Vater am Herd gearbeitet und sind heute 83 Jahre alt. Welches waren die grössten Veränderungen, die die tägliche Arbeit beeinflussten?

Bocuse: Ich fing 1941 während des Krieges an. Lange Zeit hat sich damals nicht viel verändert. Dann kamen die Gesetze und Vorschriften. Für uns hat es heute in der Küche zu viel Papierkram. Dann kam die 39-Stunden-Woche, die Arbeitstage wurden im Laufe der Zeit immer kürzer. Das fördert den unaufhaltsamen Vormarsch der Cuisine d’Assemblage. Und mit den gültigen Gesetzen hat man ja nicht einmal mehr das Recht, Fonds selber herzustellen, und bald werden wir die Kartoffeln nur noch geschält einkaufen dürfen. Ich übertreibe ein bisschen, aber im Grossen und Ganzen ist es so.

Brodmann: In Ihrer Biographie «Le feu sacré» enthüllten Sie, dass Sie seit vielen Jahren mit drei Frauen in drei verschiedenen Haushalten leben. Sie sagen auch, dass Sie das machen, wovon jeder Mann träumt. Aber wir reden hier nicht von einem Jahr, sondern von einer über dreissigjährigen Konstanz, in denen Sie drei Beziehungen gleichzeitig führen ... ich erwarte ja nicht einmal eine Erklärung, aber...

Bocuse: ... ich habe ja nur drei Beziehungen. Eigentlich plante ich mehr zu haben. Ich war und bin eben vernünftig.

Brodmann: Aber ein normaler Mann hat ja schon Probleme mit einer Frau. Wie geht das mit dreien?

Bocuse: Ah. Monsieur Romeo, junger Mann: Das ist eine Frage der guten Organisation und der guten Gesundheit. Aber damals war das ja auch eine Epoche der Freiheit und der sexuellen Befreiung. Alle schliefen mit allen. Erst die Entdeckung von Aids bereitete diesem Spiel in den Siebzigern ein Ende.

Brodmann: Sie haben das Erbe Ihres Grossvaters und Vaters in dritter Generation weiter getragen und den Namen Bocuse zur französischen nationalen Institution gemacht – wird eines Ihrer Kinder Ihr Erbe in vierter Generation weiterführen?

Bocuse: Wissen Sie, wir hatten damals Probleme. Mein Grossvater verkaufte seinerzeit alles – sein Unternehmen mit dem Namen. Als ich 1965 die drei Sterne für die Auberge sur Collonges erhielt, hatte ich nicht das Recht, meinen eigenen Namen dafür zu verwenden. Ich habe «Bocuse» 1966 zurückkaufen müssen.

Brodmann: Demnach war «Bocuse» also von Anfang an eine Marke, die mit Ihrem Schaffen sowie mit der Gründung des «Paul Bocuse Institut für Hotellerie und kulinarische Kunst» und des « Bocuse d’Or» die Dimension der Unvergänglichkeit längst erreicht hat?

Bocuse: Ja, jetzt ist er gut etabliert.

Brodmann: Und wie steht es jetzt mit der nächsten Generation?

Bocuse: Nun, mein Sohn Jérôme Bocuse lebt in den USA und leitet die Restaurants dort. Er will nicht zurückkommen und in den USA bleiben. Vielleicht hat er ja Recht.

Brodmann: Ende Januar wird in Lyon wiederum der «Bocuse d'Or» durchgeführt. Ist der Wettkampf jetzt die offizielle Weltmeisterschaft – oder wie möchten Sie Ihren Kochwettkampf in der Öffentlichkeit definiert haben?

Bocuse: Der «Bocuse d'Or» nannte sich von Anfang an «Kochweltmeisterschaft» und ist weltweit der erste und einzige, der auf der Basis von nationalen Ausscheidungen funktioniert. Zurzeit sind es 51 Länder, die sich beteiligen wollen.

Brodmann: Im Verhältnis nehmen die Themenrestaurants gegenüber den Restaurants, die auf höchstem Niveau kochen, seit bald zwei Jahrzehnten progressiv zu. Hat das für Sie eine Bedeutung?

Bocuse: Sie sind eher zeitgemässen Modeströmungen ausgesetzt und damit schnelllebiger. Wenn ein Themenrestaurant bestehen bleibt und damit Geld verdient, dann rechtfertigt dieser Umstand das Unternehmen.

Brodmann: Dabei wird die Leistung der Küche als Erfolgsfaktor stark in den Hintergrund gestellt, oder nicht?

Bocuse: Auch bei Themenrestaurants hängt der Erfolg mehr oder weniger von der Leistung der Küche ab, selbst wenn die eigentliche Aktion des Restaurant-Themas die Wirksamkeit bestimmt. Aber natürlich nie in dem Ausmass, wie es erfolgsbestimmend ist für die Sternerestaurants.

Brodmann: Sind Sie mit mir einig, wenn ich behaupte, dass Escoffiers «Guide Culinaire» heute noch die vollständige Basis der französischen und damit also der europäischen Küche darstellt – wenn wir den Boom der asiatischen Küche ausblenden?

Bocuse: Das ist richtig. Es ist vergleichbar mit der Solfège in der Musik (Solfège: Musiktheorie, Notenlehre, Gehörbildung und Gesang als Voraussetzung, um eine Partitur zu singen). Es ist die Beherrschung der Basis, die zum Können führt. Und Escoffier war der einzige, der seine Küche komplett nach diesen Standards qualifizierte. Im Übrigen sehe ich das immer wieder am Wettbewerb für den «Besten Arbeiter Frankreichs», wo immer Themen von Escoffier vorgegeben werden.

Brodmann: Wie wird sich in diesem Zusammenhang die Modeströmung der Molekularküche entwickeln?

Bocuse: Als ich 1941 anfing, fragte man mich, weshalb ich Koch lerne, und man prophezeihte mir, dass es im Jahr 2000 keine Küche mehr geben werde. Stattdessen ernähre man sich von Pillen und aus Tuben. Die Realität: Unsere Küche war noch nie auf einem so hohen Niveau und es gab qualitativ noch nie so gute Produkte wie heute. Interessant ist die Molekularküche möglicherweise ernährungstechnisch. Es gibt heute 7,5 Milliarden Menschen, die ernährt werden müssen, irgendwann wird die Erde für die Produktion nicht mehr gross genug sein, bis dahin wird man einen Weg finden müssen. Bis dahin werden wir aber noch viele Kartoffeln verkaufen können.

Brodmann: Sie sind zwischen zwei Weltkriegen aufgewachsen und haben die Zeitspanne einer Welt erlebt, die sich grundlegender nicht hätte verändern können. Welches ist Ihre für Sie persönlich wichtigste Veränderung?

Bocuse: Die grösste Veränderung unseres Hauses ist, dass nichts verändert worden ist.

 

 

Paul Bocuse

Geboren am 11. Februar 1926, gestorben am 20. Januar 2018 in Colonges-au-Mont-d’Or nahe Lyon. Er gilt mitunter als einflussreichster und bester Koche überhaupt. Seit 1965 ist seine Küche in seinem Restaurant L’Auberge du Pont de Collonges mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. 1989 wurde er vom Gault-Millau zum «Koch des Jahrhunderts» auserwählt. Er bildete eine Vielzahl an Köchen aus, die heute ebenfalls zu den besten der Welt zählen - darunter Eckart Witzigmann und Heinz Winkler. Beide waren Küchenchef im legendären Restaurant «Tantris» in München, und Witzigmann erhielt – neben Fredy Giradet - ebenfalls die Auszeichnung als «Koch des Jahrhunderts.»

Bereit im Kriegsjahr 1941 begann Paul Bocuse als Neunjähriger mit der Arbeit am Herd seiner Vaters. Den Beruf des Kochs erlernte er bei der Drei-Sterne-Köchin Eugenie Brazier in Lyon. Seine wichtigste Lehrzeit waren die Sechs Jahre im Drei-Sterne-Restaurant Pyramid von Fernand Point in Vienne. Zu Fernand Point entwickelte sich darüberhinaus eine tiefe Freundschaft, die ihn in seinem Schaffen begleitete.

Doch auch die Familie Bocuse war nicht vor Problemen gefeit – der Grossvater von Bocuse verkaufte seiner Zeit alles, auch den Namen. Als Bocuse 1965 die drei Sterne für die L’Auberge-sur-Collonges erhielt, hatte er nicht das Recht, seinen eigenen Namen dafür zu verwenden. 1966 musste er die Marke «Bocuse» zurückkaufen.