Der korrekte Schnitt eines Obstbaums hat sich über die Jahre hinweg gewandelt. Früher achtete man darauf, dass die oberen Äste den Grossteil des Sonnenlichts abbekamen, heute gilt jedoch beim Schnitt ein demokratisches Prinzip. Da es nicht jedermanns Sache ist, auf einen Hochstamm zu steigen, übernimmt die auf Hochstammbäume spezialisierte Baumschnittgruppe der bekannten Mosterei Ramseier Aachtal AG aus dem thurgauischen Oberaach diese diffizile und nicht ungefährliche Arbeit für die Obstproduzenten im Auftragsverhältnis.

Bergers schöne Hochstammanlage

Altnau, im Kanton Thurgau. Das bekannte «Apfeldorf» liegt an den Gestaden des Bodensees. Sanft steigt es über dem sanften Seerücken empor. Im Winter hängt der Nebel oft tief über den Obstanlagen und Äckern. 2'275 Einwohner, der längste Steg am gesamten Seeufer, fünf Gastwirtschaften, einige Läden und viel Kleingewerbe. Das ist Altnau, ein Ort in «Mostindien», wo man sich noch kennt, freundlich grüsst und in dem es sich angenehm leben lässt. An diesem kalten Januartag ist auch die Baumschnittmannschaft der Mosterei Ramseier in Altnau anzutreffen. In der Hochstammanlage des Obstbetriebs der Familie Berger stellen die Männer von Hans Forster unter Beweis, dass sie in luftiger Höhe alles bestens im Griff haben. Auftraggeber Ruedi Berger und sein Sohn, zeigen sich denn auch vom Tun der Baumkletterer sehr angetan: «Bei diesen Spezialisten sitzt jeder Fusstritt und jeder Handgriff und mit meinen 70 Jahren bin ich selber zu alt, um noch einen Hochstammbaum hinaufzuklettern», meint Ruedi Berger schmunzelnd. Auch sein Sohn Florian (38), der heute dem väterlichen Betrieb vorsteht, ist froh, dass er das Schneiden der Hochstämmer den Fachmännern der Baumschnittequipe der Mosterei Ramseier überlassen kann, zumal der Baumpflegeservice zu fairen Konditionen angeboten wird. Der Stundenansatz für den Baumschnitt betragen in dieser Saison 36 Franken für Ramseier-Produzenten und 52 Franken für den Schnitt in Hausgärten und allgemein.

Die Mützen tief ins Gesicht gezogen

An diesem unwirtlichen Tag begleitet Ruedi Berger den Leiter des Baumschnittteams Hans Forster und drei seiner Teammitglieder in seine siebzig Aren umfassende Obstanlage. Es liegt ein Hauch Schnee über der Landschaft hoch über dem Bodensee. Das Thermometer zeigt in der Frühe minus ein Grad. Eine eisige Biese bläst durchs Geäst. Die Männer haben ihre Mützen tief ins Gesicht gezogen und betrachten die in Reih und Glied stehenden 69 Boskop-, Gravensteiner-, Hord- und Wein-Apfelbäume im schönen, in den 1950er-Jahren angelegten Obstgarten. Am südwestlichen Ende der flachen Parzelle wachsen die mächtigen Äste des einzigen Kirschbaumes in den grau verhangenen Himmel. Auch dieser Baum soll heute geschnitten werden. Unverzüglich beginnen die Baumspezialisten mit ihrer Arbeit. Von zwei hydraulischen Hebebühnen aus oder mit einer Holzleiter schneiden sie fachmännisch das Geäst der bis zu sieben Meter hohen Obstbäume. Andreas Schmid aus Altnau, der designierte Nachfolger des bereits 65-jährigen Hans Forster, Sandro Mock aus Langrickenbach und Peter Rutishauser aus Amriswil sind Teil der kühnen Thurgauer Baumschneidetruppe. Das reine Männerteam wird von drei weiteren erfahrenen Landwirten vervollständigt. Alle Teammitglieder verfügen neben ihrer landwirtschaftlichen Ausbildung auch über eine Ausbildung in Baumpflege.

Klamme Finger

Die Finger sind klamm. Um 9.30 Uhr eilen die Männer hurtig und zielstrebig zu ihrem am Weg geparkten Mannschaftswagen, der an den weissen Aussenwänden mit Werbeplakaten der Mosterei Ramseier beklebt ist. Zum Znüni gibt es einen heissen, natürlich alkoholfreien Apfelpunsch. Da der Petroleumofen streikt, muss das süsse Getränk zum Aufwärmen genügen. Nach einigen Versuchen läuft dann aber auch der Ofen, sodass der Mannschaftswagen wenigsten bis zur Mittagspause geheizt sein sollte. Normalerweise werden die Baumschneider bei den Auftraggebern kostenlos verpflegt. In Coronazeiten ist dies aber nicht mehr möglich und auch nicht in einem Restaurant. Deshalb müssen die Männer auch das Mittagessen in ihrem Mannschaftswagen einnehmen. Von einem Take-away bestellen sie sich Pizzen und Kebabs.

Tanzende Dreiräder

Nach dem heissen Znüni-Punsch fahren die «Piloten» in ihren Arbeitskörben mit ihren Gelenk- und Teleskopbühnen «Hugo» und «Urs» wieder flott um und in die Bäume. Schnell und behände steuern sie die über eine Tonne schweren Hilfsgeräte in luftiger Höhe um die Baumkronen. Abgesägte Äste fallen krachend und Holzspäne geräuschlos wie Schneeflocken auf die Wiese. Wie in einem Ballett tanzen die gelben, dieselbetriebenen Dreiräder aus Italien durch den Altnauer Obstgarten, dessen Bäume maximal sieben Meter hoch sind. Neben Akku-Kettensägen sind die kleinen Arbeitsbühnen mit pneumatischen Luftdruckscheren bestückt. Separate Kompressoren sind in der Hebebühne integriert.

Ein Dirigent, der auch mal motzt

Sandro Mock hält einen langen zusammengesteckten Schüttelhaken in beiden Händen. Der auf einem Alu-Teleskopstiel angebrachte Haken ist seit Jahrzehnten wichtiger Helfer beim Schütteln des Obstes, aber auch bei Baumpflegearbeiten aller Art kommt er zum Einsatz. Er ist geeignet, um Äste im Rahmen der Obsternte oder der Baumpflege herunterziehen und zu schütteln. «Da sich die Schüttelstange bis auf fünf Meter ausfahren lässt und dazu auch noch meine Körpergrösse kommt, kommen wir mit dem Haken an über sechs Meter hohe Äste heran. Es braucht fürs Bäumeschneiden eine professionelle Ausrüstung: Neben den Hebebühnen verschiedene Ketten- und Handsägen und Scheren. Scharfe Werkzeuge seien wichtig, damit es am Holz nicht zu Quetschungen kommt, die schlecht verheilen. «Die meisten Schnitte machen wir von den Hebebühnen aus. Das geht einfacher und schneller», sagt Hans Forster, der alle Arbeiten vom Boden aus aufmerksam leitet und überwacht. Von unten kann man den Baum besser beurteilen als von oben. «Ich bin der Dirigent, der auch mal motzt», meint Hans Forster lachend und steigt mit der Leiter gleich gewandt selber auf einen Baum und säubert mit Handsäge und Schere den bemoosten Stamm. Später arbeitet Forster dann vom Boden aus mit einer Teleskop-Motorsäge. Mit dem Stihl-Hoch-Entaster sei die Obstbaumpflege und das Ausputzen von Gehölzen komfortabler, vielseitiger und sicherer. «Die benzinbetriebene Motorsäge am Stiel», wie sie Forster bezeichnet, ermöglicht die Arbeit vom Boden aus. Mit dem Modell können Äste auf einer Höhe von bis etwa 4,5 Meter Höhe gekappt werden.

Während Ruedi Berger über Jahrzehnte mit Handsäge und Felco-Schere tagelang seine Hochstammbäume schnitt, benötigt die vierköpfige Ramseier-Equipe gerade mal einen Tag für 30 seiner Bäume. Ruedi Berger: «Sie machten es gut. Mit dem Mostobstschnitt hat die Gruppe unsere Hochstämmer schön verjüngt. Nun müssen wir nur noch die am Boden liegenden Äste zusammenlesen und häckseln lassen. Sie werden für eine Holzschnitzelheizung verwendet.»

Ramseiers Baumkletterer

Mit einem roten Steyr 8070 Turbo-Traktor ziehen Ramseiers Baumkletterer mit umgebauten Bauwagen und Hebebühnen von November bis Mitte März durch die ganze Ostschweiz. Hunderte von Kilometern vom Bodensee bis ins Thurtal werden zurückgelegt. Über 2'000 Hochstammbäume werden die Männer bis im Frühling bestiegen und geschnitten haben. «Wir sind auch in dieser Saison ausgebucht, mehr Aufträge können wir nicht mehr annehmen», berichtet Hans Forster, der die Gruppe 2010 mitgründete und seither leitet. Er wohnt in Leimbach und war lange bei der Landi in Oberaach tätig. 800 Bäume hat die Crew in dieser Saison bereits geschnitten. Die Ramseier-Dienstleistung für Kunden und Private sei sehr beliebt, doch junge Berufsleute für die Arbeit zu finden, schwer, meint Forster. «Obstbäume im Winter zu schneiden, ist leider kein begehrter Job. Niemand klettert im Winter gerne auf Bäume, da die Unfallgefahr hoch ist», sagt Hans Forster. «Ja, uns fehlt der Nachwuchs. Auf Stellenausschreibungen hat sich bisher niemand gemeldet», bestätigt auch der 29-jährige Andreas Schmid, der die Formation in Zukunft leiten wird. Bis es soweit ist, muss er allerdings noch den Baumwärterkurs in Flawil besuchen. Dieser beginnt im kommenden Februar. Hauptberuflich arbeite Andreas Schmid bei der Landi Aachtal in Oberaach.