Davide Ferreto schneidet mit dem Messer flink die kleinen Artischocken ab und legt sie in den umgehängten Obst-Pflückweidenkorb. Seit Juni werden bis zu 200 Kilo Artischocken pro Woche auf dem biodynamischen «Feldhof» in Scherzingen (TG) über dem Bodensee geerntet. Auf zwei Feldern von insgesamt 40 Aren wachsen 4'000 Artischockenpflanzen der mehrjährigen Sorte «JW 106» von Beat Jud, Bio-Jungpflanzen, in Tägerwilen. Wenn's optimal läuft, werde die Ernte zwei Tonnen betragen. Neunzig Prozent geht – via Rathgeb Bio Produkte AG in Tägerwilen und Unterstammheim (Logistik) – an Coop, das seit 2018 Demeter-Artischocken im Sortiment führt.

Die restlichen zehn Prozent werden auf den Wochenmärkten in St. Gallen und Winterthur sowie in ihrem Hofladen in Scherzingen für zwölf Franken pro Kilo verkauft. «Feldhof»-Pächter und Gemüsegärtner Tobias Rascher (40): «Coop möchte minimal sechs Zentimeter breite und grüne Artischocken.  Ihre Stiele, die man gekocht auch essen kann, dürfen zehn Zentimeter lang sein.» Sie werden im Laden offen verkauft. Das Ziel von Demeter ist ein offener Verkauf um unnötige Verpackung zu vermeiden. «Coop will in Zukunft mehr Demeter-Produkte und Spezialkulturen wie Schweizer Artischocken, Spitzkabis oder gelbe Zucchetti verkaufen», freut sich Rascher. 2016 hat der Grossverteiler sein Naturaplan-Sortiment mit ersten Schweizer Produkten in Demeter-Qualität ergänzt.

«Diese Produkte zeichnen sich durch eine aussergewöhnlich anspruchsvolle Bio-Qualität aus und tragen neben der Knospe von Bio Suisse auch das Label von Demeter», bestätigt Rebecca Veiga, Mediensprecherin von Coop in Basel. Heute führt Coop schweizweit über 130 Demeter-Produkte im Sortiment. Dieses umfasst neben Milchprodukten (Milch, Butter, Joghurt und Käse), Eier, Brot, verschiedene Gemüsesorten, Wein und Babynahrung.

Ausländische Sorten erobern den Markt

Fünf Sorten Artischocken werden in der Schweiz hauptsächlich angebaut. Die Hauptsorte ist eine Grüne aus Spanien («JW 106»). Eine andere ist die purpurfarbene «Opera», sowohl als Gemüse-Artischocke wie auch zur Blütenproduktion geeignet. In der Schweiz werden unter anderem folgende konventionellen Artischocken-Hybridsorten für den professionellen Anbau verwendet: «Madrigal», «Symphony», «Opal» und «Opera». Sie werden von der deutschen Hild Samen GmbH in Marbach am Neckar vertrieben und auch in der Schweiz kultiviert. Überwiegend findet die Hybridzüchtung bei Artischocken in Kalifornien und Spanien statt. Artischocken-Setzlinge produziert unter anderem der Bio-Jungpflanzenspezialist Beat Jud im thurgauischen Tägerwilen. Siehe separater Bericht. 

Die Sativa Rheinau AG, Biosaatgut und Pflanzenzüchtung in Rheinau (ZH) arbeitet seit einigen Jahren gemeinsam mit dem Artischockenanbauer Daniel Reutimann aus Guntalingen (ZH) an einer nachbaufähigen Populationssorte (Nichthybride) für die Kurzkultur. «Wir können nicht genau sagen, wann die neue Sorte fertig sein wird. Im letzten Jahr sind wir nicht wirklich weiter gekommen, weil das Wetter zu heiss war», sagtAmadeus Zschunke, Geschäftsführer der Sativa Rheinau AG.

«Früher sehr frostgefährdet»

Die Artischocken sind mehrjährige Stauden. Allerdings überwintern sie bei uns nur in milderen Lagen. «In den letzten Wintern ist es aber ganz gut gelungen, zumindest in unserem Acker in Scherzingen. Pflanzen überstehen Frost theoretisch bis minus zehn Grad. Bei starkem Wind (Bise) können sie aber auch schon bei zwei Grad erfrieren Solange die Pflanze lebt, bildet sie auch jedes Jahr auch Blüten, die entweder gegessen werden können oder einfach blühen gelassen werden», sagt Gemüsebauer Tobias Rascher. Der Anbau der Nischenkultur, die in Scherzingen erst 2017 begann, werde weiter ausgebaut. «Artischocken waren früher sehr frostgefährdet. Mit den neuen Sorten, welche im Januar warm angezogen, in Töpfe getopft und im Mai ausgepflanzt werden, hat sich die Kultur vereinfacht. Sehr wichtig im Winter, wenn sie im Freiland bleiben, ist ein guter Wasserabzug», weiss Peter Lippus (72), Gemüsefachmann und Gärtnermeister aus Widnau (SG). Er hat über dreissig Jahre lang an der kantonalen Bäuerinnenschule Custerhof Reineck im Rheintal als Fachlehrer unterrichtet. Die laufenden Kulturarbeiten sind relativ einfach: Düngung, Bodenlockerung, Schädlings- und Nützungskontrolle usw. «Gegen Unkraut bei den Artischocken muss um die Erde der Pflanze viel gehackt werden. Dies wird mehrheitlich mit dem Traktor gemacht. Am Ackerrand scheinen einige Pflanzen durch Engerlinge befallen zu sein. Wir machen Unkrautbekämpfung ohne Chemie», sagt Rascher.

Die Artischocken werden – in der biologisch-dynamische Landwirtschaft, die auf den Ideen des Anthroposophen Rudolf Steiner in den 1920er-Jahren sowie Erhard Bartsch und Ernst Stegemann (ab 1930) basieren – unter anderem mit Rindermist gedüngt. Der weitere Wachstumsverlauf sei, so sagt auch Gemüsegärtner Tobias Rascher, vergleichsweise anspruchslos. 

Artischocke als Arzneipflanze

Neuer Absatzkanal: 2018 konnte der Feldhof erstmals auch Artischockenblätter an das Pharmaunternehmen Bioforce nach Roggwil (TG) verkaufen. Das Laubblatt der Artischocke weist eine pharmakologische Wirkung auf und wird auch in der traditionellen Medizin eingesetzt. «Wir brauchen jährlich wenige Tonnen frische Artischockenblätter und verwenden sie für unser Leber-Galle-Präparat ‹Boldocynara›. Die Blüten verwenden wir nicht», bestätigt Andreas Ryser, Leiter Heilpflanzenanbau bei der Bioforce. Die vom Heilpraktiker Alfred Vogel 1963 gegründete Firma baut seit über 50 Jahren im Thurgau selber Artischocken an. 

«Artischocken sind ein dekadentes Wohlstands- und Luxusgemüse. Es braucht eine Riesenfläche für wenige Kilo Gemüse» meint ein Gemüsegärtner in der Region, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will. «Der Ertrag ist tatsächlich klein», gibt Tobias Rascher zu. «Auf einem Quadratmeter gibt es im Durchschnitt bei uns 800 bis 1000 Gramm Artischocken. Bei Rüebli, die man zudem maschinell ernten kann, liegt der Ertrag bei rund fünf Kilo/m². Dementsprechend ist der Preis dann auch viel geringer.» 

Tobias Rascher: «Für uns ist die Zusammenarbeit mit Coop eine Chance. Grossflächige Gemüsekulturen passen eigentlich nicht zu unserem vielseitigen und eher kleinen Betrieb, aber eine Nischenkultur wie die Artischocke für Coop anzubauen, passt gut in unser Konzept.»

«Die stattliche Blütenknospe der Artischocke ist ein Hingucker und im Teller eine Köstlichkeit», sagt Davide Ferreto, Gemüsegärtner mit italienischen Wurzeln. «Ich mag unsere Carciofi sehr.» Dennoch ist der sehr gesunde, distelartige Korbblütler in der Schweiz weiterhin ein Exot,  auch weil er nicht aus unserer Esskultur stammt. Wer ihn anbauen möchte, ist auf ein mildes Mikroklima angewiesen. 

 

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Fakten und Informationen
Artischocken-Markt Schweiz

Artischocken (Cynara scolymus L.) sind Korbblütler. Von der Riesendistel werden die grünen, noch nicht voll entwickelten Blütenköpfe geerntet. Essbar sind der untere Teil der Kelchblätter, der Stiel und der flache Blütenboden. Artischocken sind als Vorspeise, als Hauptmahlzeit oder in eingelegter Form beliebt. Artischocken sind wärmeliebende Pflanzen und benötigen für den Anbau ein ausgeglichenes Meeresklima. Deshalb ist der Anbau in der Schweiz nur mit spezieller Kulturführung möglich. Kulturführung heisst, geeignete Massnahmen ergreifen, dass eine (Gemüse)Kultur sich entwickeln kann. In diesem Falle beispielsweise mit Frostschutz (Folien, Niedertunnels etc.) und geeigneter Bodenbearbeitung.

Nicht nur wegen des anspruchsvollen Anbaus werden in der Schweiz verhältnismässig wenige Artischocken angebaut: Sie unterstehen einer vereinfachten Einfuhrregelung, das heisst Importe können jederzeit zu einem reduzierten Administrativ-Zollansatz getätigt werden (im Gegensatz zu Rüebli, Zwiebel, Kopfsalat etc.). 

Marktvolumen

Über die letzten Jahre sind nur wenige Tonnen Artischocken in den Detailhandel gelangt: 2012: 2,7 Tonnen, 2013: 5,7 t, 2014: 5,4 t, 2015: 6,1 t, 2016: 2,8 t, 2017: 0,1 Tonnen. 2016 wurden 1'712 Tonnen importiert. 1'448 Tonnen (zirka ein Promille der Inlandproduktion) wurden 2018 importiert, offiziell 1,4 Tonnen wurden aus inländischer Ware über den Handel vermarktet. Vermutlich werden über 50 Tonnen bei uns produziert. Die Statistiken stimmen hier nicht.

«Aus wirtschaftlicher Sicht ist es schwierig, Artischocken im Inland anzubauen und über die ‹gängigen› Handelskanäle zu vermarkten. Ein Absatz über Nischenkanäle ist jedoch möglich», sagt Rolf Matter, Direktor der Schweizerischen Zentralstelle für Gemüsebau und Spezialkulturen SZG in Koppigen (BE). Immerhin hätten die gemeldeten Schweizer Anbauflächen von 1,11 Hektaren (2011) auf sechs Hektaren (2018) zugenommen. Zahlen für 2019 gibt es noch nicht. Davon wurden 2,4 Hektaren biologisch angebaut. Rolf Matter: «Gemäss der Entwicklung ist somit ein Trend – auf niedrigem Niveau! – erkennbar: Regionalität, Spezialitäten und Exklusivität etc.» Im Jahr 2018 wurden fast 1'450 Tonnen Artischocken importiert. Artischocken-Importe kamen aus Italien (64 Prozent); Frankreich (22 %) und Spanien (14 %).

«Im Thurgau wird im professionellen Anbau keine Artischocke produziert. Eventuell haben Direktvermarkter einige. Artischocken sind vom Klimatischen in unserer Region nicht besonders gut angepasst. Dass keine Artischocken bei uns angebaut werden, kommt daher, dass es keinen Grenzschutz für diese Kultur gibt und die Produktion daher bei uns nicht kostendeckend ist. Hinsichtlich der Direktzahlungen wird Artischocke wie das übrige Freilandgemüse behandelt», bestätigt Michael Mannale, Berater für Gemüse und Beeren am Thurgauer Bildungs- und Beratungszentrum Arenenberg in Salenstein.

Absatzkanäle

Absatzkanäle sind Detailhandel, Grossverteiler und Direktvermarktung (Wochenmärkte, Hofläden, Gastronomie und bei Pharmaunternehmen etc.). Der Hauptanteil (Importware) über die gängigen Handelskanäle. Inlandware lediglich über Nischenkanäle oder Direktvermarktung. 

Produktionskosten und Erlöse?

Es gibt keine genauen Angaben dazu. 

Wachstumsaussichten und Eintrittsbarrieren: Was braucht es, um selbst im Artischockenmarkt mitmischen zu können?

Neue Hybridsorten ermöglichen eine einjährige Kultur mit Ernte ab Ende August. Für den Absatz muss ein Nischenkanal gefunden werden (Regionalität, Spezialitäten und Exklusivität).

Importe

Das 1958 gegründete Handelsunternehmen Bardini und Keller AG in Gossau (SG) importiert von Januar bis Mai unter anderem aus Italien Artischocken. Italien produziert beispielsweise die bekannten violetten Spitzartischocken, die sehr schmackhaft, jedoch relativ klein wachsend sind. Ab April werden die Früchte der Seitentriebe geerntet. Diese kleinen «Carciofini» sind beliebt fürs Einmachen oder auch zu Spagetti carciofini. Sprecher Felix Gehrer: «Eine Spezialität sind die spitzigen Artischocken aus Sardinien, die effektiv Dornen oben am Blatt haben, die verletzen können. Wir handeln diese für Gourmetküchen, die mit diesem Produkt umgehen können. Spanien und Frankreich bauen grosse Romanesco-Artischocken an, die fleischiger sind, jedoch häufig auch faserig. Die Schweiz hat nach meinen Kenntnissen eine relativ kleine Produktion, in den Monaten Juli bis September.» Unsere Importe in die Schweiz seien überschaubar. Wichtig sind sie rund um Ostern und die folgenden Festtage herum. «Meiner Meinung nach sind die Preise der Importware nicht sehr hoch», so Felix Gehrer. (uok)

Quelle: Schweizerische Zentralstelle für Gemüsebau und Spezialkulturen SZG in Koppigen (BE), SZG, Verband Schweizer Gemüseproduzenten www.gemuese.chwww.arenenberg.ch, Bardini und Keller AG, www.bardinikeller.ch .