Schweigsam und schwermütig – so lauten die Klischees: Zum zweiten Mal in Folge wurden sie nun widerlegt. Laut dem neuesten Weltglücksbericht 2019 ist Finnland das glücklichste Land der Welt. «Das stimmt. Wir arbeiten sehr viel, bezahlen hohe Steuern – aber wir haben die Natur, ein Sommerhaus, Sport und einiges mehr», sagt Teemu Kokko, CEO der Haaga-Helia-Fachhochschule in Helsinki, eine der grössten Wirtschaftsuniversitäten Finnlands. Nicht nur Finnland, auch andere nordeuropäische Länder schneiden in der Rangliste sehr gut ab: Dänemark rangiert auf Platz zwei vor Norwegen und Island. Es folgen Holland, die Schweiz und Schweden.
Omnipräsentes Design
Die Verbindung von Kunst und Handwerk in der alten Bauhaus-Werkbund-Idee wird heute gern als die Initialzündung für das moderne Industriedesign gesehen. Design ist in Finnland Teil des täglichen Lebens. Ob im Garten mit funktionalen Werkzeugen, in Saunas, in der Mode, in der Büroeinrichtung und in der Architektur, in Kindergärten, Schulen oder in Hotels. Design bringt etwas Besonderes in den Alltag. Die Helsinki Design Week schafft es, die Designszene mit einem interessierten, breiteren Publikum zusammenzubringen. Es gelingt seit Jahren, Design als kulturelle Disziplin stärker zu verankern. Finnlands Design zehrt in erster Linie von seiner grossen Geschichte – Wie es um die aktuelle Szene steht, lässt sich alljährlich im September am Designfestival in der finnischen Metropole erfahren.170'000 Menschen besuchten die 250 Veranstaltungen unterschiedlichsten Formats in der Unesco-City of Design.
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«Da die Finnen aus dem Wald kommen, schätzen wir in der Regel einfache, funktionale, konkrete und umfassende Formen und Materialien, die uns an die ländliche DNA und unseren mentalen Charakter erinnern – ernst, leise, bescheiden, ehrlich – und unsere Liebe zu Klarheit und Aussagekraft.»Kalle Tuomi, Creative Director, Futurice Oy, Helsinki.
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Ode an die neue Bibliothek «Oodi»
Eines der faszinierendsten Neubauprojekte Europas wurde erst Ende 2018 fertiggestellt: Die neue Zentralbibliothek «Oodi» samt grossem Park. «Oodi» bedeutet so viel wie «Ode» und ist gerichtet an die gesamte Stadtgesellschaft. Es ist ein «Stadthaus für alle Bürger» (www.oodihelsinki.fi/) und wurde kürzlich zur «weltweit besten neuen Bibliothek» gewählt. Oodi wurde geradezu dafür angelegt, Grossveranstaltungen im Park oder unter ihrem mondän geschwungenen Vordach die nötige Infrastruktur zu bieten. Als «hybride Bibliothek» sei sie zwischen Wissens-Speicher und digitalem Co-Working Space angesiedelt. «Ihren Charme machen dennoch die schönen Orte aus Büchern, Regalen und Licht aus. Im Google-Zeitalter ist dies die entscheidende Qualität», sagt Ulf Meyer, Architekt und Publizist aus Berlin.Und BesucherinTiina Gustafsson, Dolmetscherin in Turku, meint: «Oodi finde ich superfein, doch mehr als Wohnzimmer und Treffpunkt für die Stadtbewohner, Bücher spielen eine Nebenrolle.»
«Himmel der Bücher»
Auch im Innern wurde an Kunst und Design nicht gespart. Neun berühmte Schriftstellerinnen und Autoren – von Minna Canth bis Aleksis Kivi, Mika Waltari bis Tove Jansson – wurden in Form von Teppichen verewigt. Auch andere Kunstobjekte wie Skulpturen, Fotos etc. gibt es: An den schwarzen Wänden der breiten Wendeltreppe wurde beispielsweise vom KünstlerOtto Karvonen die Installation «Omistuskirjoitus» («Widmung») geschaffen.
Der «Himmel der Bücher» in der obersten Etage ist eine weite, offene Landschaft, die von einer wellenförmigen, wolkenartigen weissen Decke gekrönt wird. Hier treffen die besten Merkmale der modernistischen Bibliothek auf die Möglichkeiten, die die neuesten Technologien bieten. Eine ruhige, gelassene Atmosphäre lädt zum Lesen, Lernen, Denken und Geniessen ein. Von dieser Ebene aus können Besucher einen uneingeschränkten 360-Grad-Panoramablick auf die Innenstadt geniessen.
Ort für Vieles und Viele – Nähmaschinen stehen bereit
Die neue Zentralbibliothek ist ein Ort für Vieles und Viele. Der kostenlose Zugang zu neuen Technologien wie 3D-Druckern und Lasercuttern, aber auch zu Spielkonsolen und Nähmaschinen steht im «Oodi» im Zentrum des Geschehens. Auch Sportgeräte, Werkzeuge und Geschirr können in der modernen Multimediathek ausgeliehen werden. Oodi soll lebenslanges Lernen, eine aktive Bürgerschaft und damit schlichtweg «Demokratie und Meinungsfreiheit» unterstützen, wie ihre Bauherren es nennen. Auch das gute alte Buch hat im Oodi einen Hightechtouch bekommen: Alle Medien sind mit Radio-Frequenz-Identifikations-Tags ausgestattet, mit deren Hilfe Roboter sie im Haus bewegen und bei Bedarf wieder an ihren Regalplatz befördern können.
Die Ausleihen steigen
Der Standort macht deutlich, welche Bedeutungen die Bibliothek hat. Oodi steht im Herzen der Stadt, gegenüber dem Parlament, in direkter Nähe zum Konzerthaus, dem Kunstmuseum Kiasma, dem Verlagsgebäude der grössten finnischen Tageszeitung «Helsingin Sanomat» und unweit Alvar Aaltos imposanter Finlandia-Halle. Vom Perron im Hauptbahnhof fällt man praktisch ins Oodi hinein. Die zentrale Lage entspricht dem Stellenwert, den in Finnland Bibliotheken entgegengebracht werden. Das 100 Meter lange Bibliotheksgebäude besitzt eine Fläche von über 17'000 Quadratmetern aber «nur» 100'000 Bücher. Es ist eine der populärsten Dienstleistung der öffentlichen Hand – und es gibt sogar ein eigenes Gesetz, das erklärt, dass Bibliotheken dazu da sind, den Menschen zu helfen, Teil der Gesellschaft zu sein.
Die symbolische Geste soll zeigen, dass Bildung und Politik der finnischen Gesellschaft gleich wichtig sind. Etwa 98 Millionen Euro haben sich Stadt und Staat ihren Neubau vom Architekturbüro ALA in Helsinki kosten lassen, der ein Grundbedürfnis befriedigt: 2018 haben die 5,2 Millionen Finnen über 68 Millionen Bücher aus ihren Stadtbibliotheken getragen. Für seine Bibliotheken hat der finnische Staat etwa 57 Euro pro Kopf ausgegeben, ein Rekordwert, berichten die Medien. Trotz Digitalmedien und florierender Streamingdienste steigt die Anzahl ausgeliehener Bücher in Finnland weiter.
Pro Tag besuchen etwa 9'200 Personen das imposante Gebäude in der Nähe der Töölö-Bucht (Töölönlahti). Davon seien etwa zehn Prozent Touristen, bestätigt Oodi-Direktorin Anna-Maria Soininvaara. Pro Jahr rechnet man mit 2,5 Millionen Benutzern und Gästen.
«Amos Rex»: Atemberaubend
Mit dem «Amos Rex» bekam Helsinki 2018 einen weiteren innovativen Museumsbau für moderne Kunst (www.amosrex.fi/en). Es steht nur einen Steinwurf vom ebenso spektakulären Museum für zeitgenössische Kunst «Kiasma» entfernt, das der amerikanische Architekt Steven Holl 1992 baute. Auf dem Areal des «Lasipalatsi» («Glaspalast»), einem Ensemble funktionaler Flachbauten mit dem Kino Rex, das 1936 als temporäres Teil für die Olympischen Spiele errichtet worden war, konnte 2018 das neue Museum eröffnet werden. Der schwedischsprachige finnische Zeitungsverleger und Kunstliebhaber Amos Anderson (1878–1961) sowie sein Erbe finanzierte das private Museum «Amos Rex» mit. Es hat die Kulturlandschaft von Helsinki weiter bereichert. Im ersten Jahr zählte man über 500'000 BesucherInnen.
Der Glaspalast wölbt sich auf dem grossen Platz und kleine Hügel stehen wie Vulkankegel in der Gegend. Sie werden täglich von Besuchern in Beschlag genommen und bestiegen, mit Rollbrettern als Schanze benutzt. Und was sind das für runde Fenster, grosse futuristische Bullaugen, die gleichsam aus dem Boden spriessen? Was verbirgt sich wohl im Untergrund? Steigt man die breite Treppe ins Foyer hinab, lüftet sich das Geheimnis: «Die runden Fenster sollen Tageslicht in das unterirdische Museum lassen», sagt Sprecherin Lia Palovaara. Die grossen und hohen Ausstellungsräume mit über 2'100 Quadratmetern sind flexibel zu bespielen. Atemberaubend ist die Ausstellungshalle, deren weite Decke sich wie ein künstliches Himmelsgewölbe über den Köpfen der Besucher ausbreitet.
In der letzten Ausstellung «Ars Fennica 2019» zeigte das Museum Werke von fünf Künstlern aus dem hohen Norden: Petri Ala-Maunus (Finnland), Miriam Bäckström (Schweden), Ragnar Kjartansson (Island), Egill Sæbjörnsson (Island) und Aurora Reinhard (Finnland). Finnlands bedeutendsten Preis für Bildende Künste, «Ars Fennica Award 2019», ging heuer an Ragnar Kjartansson. «Ein besonderer Ort, um auszustellen. Es gibt sehr viel Platz», meinte die schwedische Künstlerin Miriam Bäckström (52) aus Stockholm. Amos Rex zeigt bis am 12. Januar 2020 das Werk des finnischen Malers Birger Carlstedt (1907–1975) einem Abstrakten, der seinen Nachlass dem Museum vermachte.
Blick in die aktuelle Design-Szene
Mir haben sich vor allem die ungewöhnlichen Orte eingeprägt, die von der Design Week in der ganzen Stadt bespielt wurden: Zum Beispiel das Kulturzentrum in der alten Kaapeli-Fabrik, in der einst das Weltunternehmen Nokia Kabel fertigte, und das Haus an der Erottaja-Strasse 2 in Helsinki – eine echte Wiederentdeckung! Es ist prunkig, aber auch klassisch-chic und sehr bunt.
Während 100 Jahren war der schöne Palazzo an der Erottajakatu Nr. 2 im Herzen von Helsinki ein reines Bürogebäude für den finnischen Staat. Erstmals konnte das leer stehende Gebäude für die Design-Ausstellung genutzt werden. Ein Glücksfall. In 65 Räumen auf fünf Etagen waren Möbel, Kleider, Performances, Bilder und vieles mehr zu sehen und teilweise zu nutzen. Dass während zehn Tagen an der Erottaja die Waage gehalten wurde zwischen Designer und Werk, ist den Kuratorinnen und Kuratoren hoch anzurechnen. So verspielt der Zugriff gerade auf die Welt des Designs gehalten wurde, so viel Stationen die Beteiligung und das Anschauen durch die Besucher erforderten, so informativ waren auch jene Teile der zeitgenössischen Schau, die einen Blick in die aktuelle Design-Szene in der finnischen Hauptstadt gewährten. Das Wichtigste stand in Tafeln an der Wand und wurde durch Objekte veranschaulicht. Während des Festivals kamen 14'000 Personen alleine in das repräsentative Palais, das bald zu einem Nobelhotel oder zu luxuriösen Büros umgestalten werden soll. Carl Theodor Höijer, der wichtige Vertreter der Neo-Renaissance in Finnland, baute 1891 den Prachtsbau in der Nähe des Schwedischen Theaters. Der bedeutende Architekt hat Helsinki, «die Tochter der Ostsee», mit klassischen Bauten reich beschenkt.
Inspirierende Habitare-Messe
Gleichzeitig mit der Design Week fand auch die 49. «Habitare», Finnlands führende Veranstaltung für Möbel, Design und Innenarchitektur in Helsinki statt. 57'000 Besucher wurden an der mehrtägigen Fach- und Publikumsmesse gezählt. Über 400 Aussteller aus ganz Skandinavien und dem Baltikum nahmen teil. Programmdirektorin Laura Sarvilinna: «Wir hatten eine erfolgreiche Messe und erhielten viel Lob.» Alberto Alessi, Generaldirektor des gleichnamigen italienischen Designhauses, war begeistert von Hemmo Honkonens Stand und vom Stadion-Stuhl des erfolgreichen finnischen Designers Tapio Anttila (57), der auch den renommierten Kaj Franck Design-Preiserhielt. Anttila ist ein freiberuflicher Designer aus Lahti. Er arbeitete als Inhouse-Designer bei Isku Oy und entwarf Objektmöbel. Seine Produkte sind in Finnland und auf der ganzen Welt erhältlich, beispielsweise auch im MoMa Design Store(Museum of Modern Art) in New York.
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«Design war eine Art nationales Projekt, um uns in dieser neuen Welt nach dem Zweiten Weltkrieg zu identifizieren.»Laura Alto, Kunsthistorikerin und Geschäftsführerin Helsinki Marketing, Helsinki.
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Handarbeit ist Pflichtschulfach
Finnisches Design wird weltweit exportiert. Vielleicht kein Wunder in einem Land, in dem Handarbeit seit 1860 Pflichtfach in der Grundschule ist. In jedem Haushalt gab es einen Webstuhl und eine Tretnähmaschine, und alle Kinder konnten nähen.
Zu verdanken hat Finnland das auch Uno Cygnaeus (1810-1888), dem «Vater der finnischen Volksschule»: Der Pädagoge sowie Landesschulinspektor fand, die Schulen sollten die Armen unterstützen und führte 1860 den Werkunterricht in den Grundschulen ein – schliesslich musste man auf dem Land auch Alltagsgegenstände selbst herstellen. Seither ist Handarbeit in Finnland Pflichtschulfach.
«Unsere Handarbeitstradition hat mit dem Landleben zu tun. Im Winter muss alles funktional sein. Es ist ja nicht lange her, da haben die Finnen in Wäldern gelebt, Ästhetik spielte kaum eine Rolle», sagte die finnische Designerin Päivi Tahkokallio aus Rovaniemi im Radio. Man spricht oft von den «Metsäsuomalaiset» oder «Waldfinnen». Es ist erst 102 Jahre her, dass Finnland seine Unabhängigkeit erlangte. Am 6. Dezember 1917.
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«Als ich in den 1960er-Jahren in Finnland lebte, fiel mir auf, dass die Liebe zu schönem Geschirr, zu schöner Tisch- und Bettwäsche, zu schönen Möbeln, zu hochwertigen Textilien usw., auf mich wie eine ‹Reinigung› überkommener Muster wirkte. Klar musste es sein, klar in den eher kühlen Formen, ‹nordisch-kühl› und kompromisslos – aber kompromisslos mit Herz.»Hansrudolf Frey, Buchhändler, Verleger und Kulturvermittler, Frauenfeld/Stein am Rhein, der lange in Finnland arbeitete.
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Der bereits erwähnte Jungdesigner Hemmo Honkonen aus Helsinki ist gelernter Instrumentenbauer und wird bald sein Masterstudium in Design an der Aalto-Universität beenden (www.hemmohonkonen.com). Er interessiert sich besonders für einheimisches Holz und wie man es auf moderne Art und Weise verarbeitet und dabei den Traditionen folgt. Das beste Beispiel dafür ist Honkonens neueste Kollektion von Audible-Möbelstücken wie einem Stuhl, der beim hinsetzen wie ein Akkordeon tönt (Balg eingebaut), wo durch technische Innovationen eine neue Art von «hörbarem» Design geschaffen wurde.
Junge Designer hätten es aber schwer, berichtet die finnische Designerin Päivi Tahkokallio aus Rovaniemi. Sie müssen nicht nur ausserordentlich gut sein, um den Durchbruch zu schaffen. Ohne hartnäckiges Marketing und Kommunikation geht nicht viel. Und Selbstvermarktung ist nicht gerade eine Stärke der Finnen.
Marimekko – «Design for a happy life»
Eine Finnin, die etwas auf sich hält, hat mit Sicherheit ein paar Teile von «Marimekko» in ihrer Garderobe. Wer Platz hat, aufzuheben, holt Jahre später eine Bluse, ein Hemd mit Blumenmuster oder einen Schal aus dem Schrank, als sei all das eben erst gekauft worden. Die Schnitte sitzen, die Qualität der Stoffe ist exzellent, die Kleidungsstücke sind bequem und haben trotzdem eine raffinierte Note. Gefertigt wird noch heute so viel wie möglich in Finnland, ansonsten in Fabriken naher Länder mit untadeliger Herstellungspolitik. Mit konsequentem Design für Mode, Bett und Taschen ist das finnische Mode- und Stofflabel auf Erfolgskurs. Vermehrt soll die Internationalisierung der Marke gefördert werden. Das Mode- und Stoffdesign-Unternehmen «Marimekko», was eigentlich «Maris Kleid» heisst, wurde 1951 von Armi und Viljo Ratia gegründet. Maija Isola zeichnete damals die ersten Textildesigns – über 500 sollten bis Ende der 1980er-Jahren folgen. Viele davon avancierten mit ihren grosszügigen, etwas plakativen Drucken in kraftvollen Farben zu Design-Ikonen, zu Marimekko-Klassikern. Eine Durchmischung von pulsierendem Leben und Innovation zeichnet das Sortiment ebenso aus wie Kontinuität: «Jokapoika» («Jeder Junge»), ein Baumwollhemd für Männer mit vertikalen Pinselstreifen, ist seit über 60 Jahren in Produktion und noch immer aktuell.
Marimekko ist eine der ersten Lifestylemarken der Welt und wird heute von Tiina Alahuhta-Kasko (37) geleitet. Ihr Motto heute: «Design for a happy life».
Kreativer Ausnahmezustand
Ein Kritikpunkt, der auch andere Design Weeks in der ganzen Welt betrifft, ist das umfassende Programmangebot, das in der kurzen Zeit einfach nicht zu bewältigen ist. Freuen darf man sich trotzdem, den eine Lösung für Helsinki ist simpel: Man schlendert einfach durch die Stadt und entdeckt Design noch und noch. Alle, die an einer Design Week teilhaben, können sich während Tagen über einen kreativen Ausnahmezustand freuen. Besucher, aber auch Bewohner lernen die Stadt neu kennen. Nächste Gelegenheit: 3. bis 13. September 2020.
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Stimmen zum finnischen Design:
«Design steckt in der DNA der Finnen»
Kalle Tuomi, Creative Director, Futurice Oy, Helsinki:«Da die Finnen aus dem Wald kommen, schätzen wir in der Regel einfache, funktionale, konkrete und umfassende Formen und Materialien, die uns an die ländliche DNA und unseren mentalen Charakter erinnern – ernst, leise, bescheiden, ehrlich – und unsere Liebe zu Klarheit und Aussagekraft. Wir reden, wie Ausländer rasch bemerken, nicht unbedingt so viel oder kommunizieren dann auch mal sehr lebhaft. Ich denke, dass das finnische Design mit all seinen konventionellen (Kult-)Gebrauchsgegenständen und Räumen eine Art ist, sich still auszudrücken, und Sicherheit und Ruhe um uns herum bringt. Die bedeutenden finnischen Designer Aino und Alvar Aalto haben dies in ihrer Arbeit auf magische Weise festgehalten und sind somit nicht nur Architekten von Räumen, sondern auch Architekten des finnischen Glücks.
In letzter Zeit ist Service Design – den Prozess der Gestaltung von Dienstleistungen – zu einem enorm wachsenden Interessensgebiet geworden. Die Finnen haben endlich erkannt, dass auch immaterielle Erlebnisse gestaltet werden können. Das könnte die nächste Welle der finnischen Design-Erfolgsgeschichte sein. Zumindest hoffe ich das.»
Bruno Erat (80), Thurgauer Architekt aus Arbon, der seit 1965 in Finnland lebt:«Das finnsche Design hat tiefe Wurzeln, die bis zu den Selbständigkeitsbestrebungen mit der Weltausstellung 1937 in Paris zurückgehen. Dass Alvar und Aino Aalto einen riesigen Einfluss in der Moderne hatten, und wichtige Vorbilder für eine ganze Designergeneration waren und sind, ist unbestritten. Vor allem in den 1950er- und 60er-Jahren, nach dem Krieg, gab es kaum eine Schule, einen Kindergarten oder ein Heim, wo nicht damals billige Möbel der finnischen Designermark Artek standen und so zum ‹guten Geschmack› der Finnen beigetragen haben. Heute, wo man alles haben kann und zum Teil auch will, ist die Situation natürlich viel facettenreicher und auch komplizierter. Zum Teil wird Design sicher als Brand und Verkaufsargument benutzt – ganz unbegründet ist dies doch nicht.»
Laura Alto, Kunsthistorikerin und Geschäftsführerin Helsinki Marketing, Helsinki:«Es heisst, dass Design in der DNA der Finnen steckt. Es ist etwas, das die Identität dieses Landes aufbaute, etwas, für das wir ab den 1950er-Jahren bekannt wurden. Als Finnland 1917 unabhängig wurde, war dies eines der ärmsten Länder in Europa. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das Land noch sehr arm und zahlte riesige Kriegsschulden an die Sowjetunion. Es gab Bedarf an alltäglichen Gegenständen, Häusern, Möbeln und allen möglichen anderen Dingen. Designer und Architekten waren massgeblich an dem Projekt beteiligt, als sie das Land nach dem Krieg aufbauten. Design – schöne und praktische Objekte – wurden so gestaltet, dass sie für alle wünschenswert und erschwinglich sind. Und dann, ab den 1950er-Jahren, wurde finnisches Design an internationalen Wettbewerben ausgezeichnet und Alvar Aalto zu einer Art Nationalheld. Design war also eine Art nationales Projekt, um uns in dieser neuen Welt nach dem Krieg zu identifizieren.
Woher dieses Gefühl für schöne Sachen?
Es sind nicht nur schöne Objekte, sondern auch praktische Objekte. Seit es finnisches Design gibt – seit dem späten 19. Jahrhundert mit Kunsthandwerk und Massenproduktion – ist es für jeden etwas dabei. Wir hatten nie einen grossen Adel, für den die ausgefallenen Objekte entworfen wurden, aber es war immer für jeden etwas dabei. Schon früh bestand der Wunsch nach schönen einfachen Formen. Dekorationen waren hier nie populär, aber stattdessen gab es einen starken Sinn für Farben, wie beispielsweise in den Marimekko-Textilmustern.
Die meisten von uns sind bereits im Kindergarten mit Aino und Alvar Aalto-Glasvasen und Marimekko-Kleider aufgewachsen. Ich erinnere mich, dass wir im Kindergarten runde Aalto-Tische mit roter Oberfläche und kleine Aalto-Stühle hatten. Meine Patin schenkte mir Marimekko-Kleider und -Hemden und ich ich liebte sie! Erstaunlich ist, dass ich immer noch einige der Marimekko-Sachen aus den 1970er- und 1980er-Jahren habe und die Qualität ewig hält.»
Maimo Henriksson, Juristin und Diplomatin, Helsinki:«Design ist wichtig für die Finnen. Wir sind alle mit Design aufgewachsen und kennen die Ikonen wie Alvar und Aino Aalto, aber auch einige der neuen Generation.»
Hansrudolf Frey, Buchhändler, Verleger und Kulturvermittler, Frauenfeld/Stein am Rhein, der lange in Finnland arbeitete: «Wo die Ressourcen an Materialien eher knapp sind und die Natur ständiger Begleiter des täglichen Lebens ist, da wächst die Liebe zur natürlichen, schönen Form offenbar leichter. Das hat wohl schon einer der Urväter des finnischen Designs, der Künstler und Formgeber Akseli Gallen-Kallela irgendwie gespürt. Kommt dazu, dass die Formgebung alltäglicher Dinge im jungen Staat Finnland zusammenfiel mit der nationalromantischen (Jugendstil-betonten) Periode, in der aus dem russischen Grossfürstentum das unabhängige Finnland herauswuchs. Der junge Staat sollte sich auch in alltäglichen Dingen modern, funktional, eben: jung geben und das Mystische der finnischen Nationalromantik durch klare Formen und Farben überwinden. Als ich in den 1960er-Jahren in Finnland lebte, fiel mir auf, dass die Liebe zu schönem Geschirr, zu schöner Tisch- und Bettwäsche, zu schönen Möbeln, zu hochwertigen Textilien usw. auf mich wie eine ‹Reinigung› überkommener Muster wirkte. Klar musste es sein, klar in den eher kühlen Formen, ‹nordisch-kühl› und kompromisslos – aber kompromisslos mit ‹Herz›. Dass da auch die langen Winter eine Rolle spielten, war mir klar: Wenn es ein paar Monate lang dunkel, kalt, windig, schneereich und unwirtlich war draussen, dann suchte man die ‹Wärme› eines Designs geradezu. Damals kamen auch Kerzen gross in Mode, Desico hiess der Pionier aus Finnland, und auch diese Farben und Formen waren klar und rein, schnörkellos schön – wie die finnische Natur!
Interessant schien mir, dass das grosse Warenhaus Stockmann in Helsinki damals sehr viel in der Präsentation dieser neuen finnischen Lebensart (Marimekko, Arabia, Nuutajärvi usw.) machte. Die Stockmann-Schaufenster waren damals international beachtete ‹Design-Schaufenster›. Ironischerweise waren es dort damals zwei Schweizer, die dem finnischen Design auf der Mannerheimstrasse – gerade an Weihnachten – vor allem in den sechziger und siebziger Jahren – zum Durchbruch mitverhalfen: die beiden Chefdekorateure Willy Welti und Ernst Hildebrandt waren ebenfalls eine Art von Hütern des guten finnischen Geschmacks. In der Schweiz war es damals das Warenhaus Globus, dessen ‹Finnische Wochen› in den Medien und bei den Käufern grosse Beachtung fanden. Für die Warenhäuser und den Detailhandel waren finnische Design-Produkte nicht zuletzt auch eine gute Gelegenheit des Uptradings: Die Sachen waren teurer als viele mitteleuropäische 08/15-Produkte – das war für den Handel gut! – und erlaubte es dem Publikum auch, sich von der Masse abzusetzen – zu einem höheren, aber immer noch erschwinglichen Preis.
Heute habe ich den Eindruck, dass ‹Finnland› wieder neu in Mode kommt, auch touristisch. Wo gibt es noch echte Road Adventures wenn nicht auf den endlos langen Strassen durch Finnland!
Je mehr wir uns – auch gedanklich und ideell – von Ländern in Asien oder Afrika etwas zurückziehen in ‹sichere›, ‹saubere›, kulturell uns näherliegende Regionen, aber durchaus mit Abenteuer-Potential – das beginnt ja schon mit der Finnischen Sprache! – desto finnischer wird es: Und wänns der sägend spinnisch, dänn säg, du spinnisch finnisch.» (der Journalist und frühe Finnland-Promoter Hans Ruedi Fischer)
Irma Müller-Nienstedt, Finnin, analytische Psychologin und Kunsttherapeutin, Kreuzlingen und Turku, Finnland:«Finninnen und Finnen haben ganz einfach einen guten Geschmack! Aber ganz so einfach ist es wohl nicht. In Finnland wurde und wird gutes Handwerk schon lange sehr geschätzt. Vielleicht hat es auch damit zu tun, dass die Gegenstände eine neue Wertschätzung erfahren? Es gibt auch Ähnlichkeit mit finnischem und japanischem Design.»
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Informationen:Helsinki Design Week / Luovi Productions Ltd, Old Customs Warehouse, Katajanokanlaituri 5, FIN-00160 Helsinki, Finnland, Telefon +358 9 315 77658, info@helsinkidesignweek.com, www.helsinkidesignweek.com;
www.myhelsinki.fi, www.designmuseo.fi, https://patsaspuhuu.fi,www.visitfinland.com
Buchtipp:Iwanowski's Reisehandbuch Finnland. Von Judith Rixen und Dirk Kruse-Etzbach, D-Dormagen. 7., aktualisierte Auflage 2018. (8. Auflage erscheint im April 2020). 540 Seiten. Broschiert. Durchgehend farbig bebildert mit mehr als 200 Fotos. Mit herausnehmbarer Reisekarte und Kartendownload. Wörterbuch und Register. ISBN 978-3-86197-197-9. 22,95 EUR [D] / 23,60 EUR [A]. Auch als ebook lieferbar. www.iwanowski.de