Wer im lang gezogenen Thurgauer Ort Altnau («Das Apfeldorf mit Sti(e)l», Eigenwerbung) über die Strassen läuft, im Auto, Bus oder Rad entlangfährt, der möchte in erster Linie ein Ziel erreichen. Er geht beispielsweise von seinem Zuhause an der Moggenstrasse zur Ruederbaumstrasse am See oder zu Freunden am Chappeliweg. Strassen dienen dem Transport, Strassennamen der Orientierung. Besonders Post, Polizei und Feuerwehr sind auf die Strassennamen angewiesen. Die Namen der heute mehr als 50registrierten Altnauer Strassen und Wege sind aber einiges mehr als Adressen: Sie bergen über 1230 Jahre Dorfgeschichte (787 erstmals erwähnt). Es gibt in der Gemeinde mit über 2'200 Einwohnern auch alte Namen wie «Mörderhölzli», «Schwärzi Halle» (früher ein Loch für die an Pest Erkrankten).

350 Meter kurzer Strassenzug

Die Kaffeegasse liegt, etwa 460 m ü. M., zwei Kilometer südlich des Bahnhofs zum Seerücken hin. Sie ist ein ruhiger 350 Meter kurzer Strassenzug im Oberdorf, wo sich in unmittelbarer Nähe die beiden Kirchen befinden, mit wenig Verkehr. Von 20 Gebäuden werden im neuesten «Hinweisinventar der alten Bauten und Ortsbilder im Kanton Thurgau» der Denkmalpflege fünf als «wertvoll» und die anderen in der Gesamtform als «erhaltenswert» eingestuft. In den 1990er-Jahren gab es hier noch Strassen- und Quartierfeste, Spanferkel wurden gegrillt und Kinder spielten. Verwunschene Gärten traf man an, eine beschauliche Welt. Bei Armin Klaus an der Kaffeegasse 15 wurde über Jahrzehnte der schönste Christbaum des Dorfes geschmückt. Das schätzen die Anwohner mit schönen Wohnplätzen und Eigenheimen. Eine Postautohaltestelle liegt vor der Nase, die grosse evangelische Kirche auch. Kaffeekultur vom Feinsten findet man nicht. Zwar gehört auch hier ein Kaffee oder Cappuccino zu einem guten Start in den Tag. Ein Café, wo zum besten Kaffee und Kuchen geladen wird, fehlt. Dafür gibt es das Restaurant Schäfli des Spitzenkochs Urs Wilhelm.

Bester italienischer Kaffee von der Torrefazione San Salvador in Villa di Tirano wird auch nach Altnau geliefert. Dafür sorgten die Thurgauer Fahrrad-Ex-Profisportler Michael Albasini und Ralph Näf von Caffè Passione GmbH im nahen Happerswil.

Wo der Pfarrer zum Kaffee ging…

Gesichert sei die Herkunft des Namens «Kaffeegasse» nicht», sagt der frühere Gemeindeammann Beat Pretali. Der pensionierte Verleger und Drucker Hanspeter Trionfini, der früher an der Kaffeegasse 3 wohnte und Mitglied der Kommission für die Strassenbezeichnungen war, hat eine andere Erklärung: «Scheinbar soll ein früherer Pfarrer dort regelmässig bei jemandem zum Kaffee gegangen sein. Der Name Kaffeegasse wäre somit die Bezeichnung für die Gasse, in welcher der Pfarrer zum Kaffee ging.» Als «Kaffeegasse» im Jahr 1977 zum offiziellen Strassennamen wurde, sollen sich gewisse Anwohnende dagegen gewehrt haben. Beat Pretali: «Ihnen schien die Bezeichnung nicht angepasst, da an dieser Strasse auch gearbeitet und nicht nur Kaffee getrunken würde.» 

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In der Aufzeichnung der Flur- und Lokalnamen des Kantons Thurgau (Munizipialgemeinde Altnau) findet man 1870 bereits die Bezeichnung «Kafigass» (Kaffeegasse), berichtete Eugen Nyffenegger im «Thurgauer Namenbuch». 

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«Fräulein Josi musste es wissen»…

Eine andere Geschichte vom Pfarrer Dunst, der jeden Nachmittag durch die Gasse zum Kaffee spazierte, kennen einige in Altnau von Fräulein Josi, berichten die früheren Gastronomen Hans und Priska Wiesli, die heute an der Kaffeegasse 5 wohnen. «Fräulein Josi musste es wissen, sie war die Haushälterin und Mesmerin im katholischen Pfarrhaus gerade vis-à-vis von unserem früheren Restaurant «Schäfli» und hat viele Jahre mit dem damaligen Pfarrer gearbeitet.» Josi habe ihnen dies schmunzelnd erzählt. «Josy» Josefine Reinschmidt (1917-2009) stammte aus Sursee und Büron LU und starb am 15. Juni 2009 in Schlierbach im luzernischen Surental. Sie war während Dekaden die Pfarrköchin und Haushälterin des katholischen Pfarrers Johannes Dunst, der früher Vikar in Büron und Pfarrer in Altnau war, berichtet Hansjörg Widmer, langjähriger Präsident der Evangelischen Kirchgemeinde Altnau, Grundbuchverwalter und Notar. Zudem schaute «Josy» auch nach den 45 Bienenvölkern des Pfarrers und Imkers Dunst. Nach dem Tod ihres Patrons war sie noch als Mesmerin im Dorf tätig, wohnte aber in einer kleinen Wohnung beim Martinshaus an der Herrenhoferstrasse. 2006 zog sie zu ihrem Neffen Joseph Unternährer nach Schlierbach.

Bereits 1870 erwähnt

Im offiziellen «Thurgauer Namenbuch» wurden die Strassennamen nicht behandelt. Die Thurgauer Sammlung von Orts- und Flurnamen wurde 1951 begonnen.

Es gibt in Tägerwilen einen «Kafigrabe», der hat einfach dunkles Wasser. In der Aufzeichnung der Flur- und Lokalnamen des Kantons Thurgau (Munizipialgemeinde Altnau) findet man 1870 bereits die Bezeichnung «Kafigass» (Kaffeegasse), berichtete Eugen Nyffenegger, früher mitverantwortlich für das «Thurgauer Namenbuch».

Man muss also nach einem anderen Bezug zu Kaffee suchen. Gab es dort vielleicht einmal ein Kaffeehaus? Oder wurde in der Strasse möglicherweise Kaffee verkauft oder vertrieben? Kaffee war einmal ein Luxusprodukt, der Verkauf oder Vertrieb der exotischen Bohnen also etwas Besonderes.Es gibt Kafi-Toponyme oder -Namenkunde auch öfter als Scherznamen für Häuser, so etwa das «Kafi Blödsinn» in Glattfelden. Er war der Beiname eines Wirtshauses. In Zell ZH gab es noch das «Kafi Durzug», das war der Name von zwei grossen Kosthäusern oder das «Kafi Bänz» in Winterthur, welches ein Name für das dortige Gefängnis war», sagt Stefan Würth, der auch am Thurgauer Namenbuch mitgearbeitet hat. 

Vielleicht hatte es in Altnau Jauchepfützen?

Was Kaffeegasse wirklich bedeutet, weiss auch Peter Bretscher, Volkskundler und Historiker, Kurator der volkskundlichen Sammlung am Historischen Museums Thurgau und Leiter des Schaudepots St. Katharinental in Diessenhofen TG, nicht. «Es könnte dort braune Lachen am Boden gehabt haben, die an Kaffee erinnern. In Diessenhofen gibt es zum Beispiel das Amelettegässli. Amelette bzw. Omelette verweist dort nicht etwa auf ein Restaurant, das solche verkaufte, sondern auf Omeletten am Boden, also Kuhfladen! Vielleicht hatte es in Altnau Jauchepfützen? Eine erhebende Erklärung!»

Die einzige Kaffeestrasse der Schweiz existiert in Bülach ZH. Sie wurde so benannt, weil sich dort die Firma Cecchetto Import AG, Importeur von italienischen Lavazza-Espresso-Caffè, niederliess. Eine «Kafigass» findet sich sowohl in Dürnten ZH als früher auch in Wolfhalden (Bubikon) ZH. In Pirmasens, Halsenbach (deutsches Bundesland Rheinland-Pfalz), in Salach bei Stuttgart sowie in Retzbach in Niederösterreich gibt es ebenso eine Kaffeegasse.

«Günstig Kaffeesatz kaufen»

Als Barbara Rüttimann Haueter mit ihrer Familie 1998 in ein Wohnhaus aus dem 17. Jahrhundert an die Kaffeegasse 13 zog (das leider später vom Besitzer abgerissen wurde), wollten sie wissen, wie ihre neue Wohnadresse zu ihrem eigentümlichen Namen kam. Niemand konnte es ihnen mit Bestimmtheit sagen, doch munkelte man sich auf der Gasse folgende Erklärung zu: Die Kaffeegasse war eine «Arme-Leute-Gasse». In der nordöstlichen Verlängerung der Kaffeegasse, gegenüber der reformierten Kirche im jetzigen Haus der Familie Stäheli-Güntzel an der Lothalde 29, gab es in früheren Zeiten einen Tante-Emma-Laden. Dort konnten die Kaffeegässlerinnen und -gässler günstig Kaffeesatz kaufen, um sich ihren geliebten Kaffee zu brauen.»

Judith Borer, Dozentin Religion an der Pädagogischen Hochschule Thurgau (PHTG), die früher an dieser Gasse mit ihrer Familie lebte, hat auch eine Version vernommen: «Es lebte an der Kaffeegasse eine arme Familie, die bei reicheren Nachbarn – vielleicht im Schäfli oder im Pfarrhaus? – den gebrauchten Kaffeesatz abholen durfte, um daraus nochmals Kaffee zu kochen. So wurde der Kaffeesatz durch diese Gasse nach Hause getragen und die Altnauerinnen und Altnauer begannen von der Kaffeegasse zu sprechen.»

 

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Kaffeegasse – eine etwas andere Version und Fantasiegeschichte…

«Leider kann ich Ihnen nichts Neues über den Namen Kaffeegasse berichten», schrieb mir der pensionierte Altnauer Pfarrer Walter Steger (84). «Also keine absurde Geschichte wie zum Beispiel, es hätte der Tagelöhner im kleinen Haus an der Gasse die verrückte Idee gehabt, aus Sparsamkeitsgründen selber einige Sträucher Kaffee anzupflanzen, um so günstig zu eigenem Kaffee zu kommen. Viel Geld habe er ausgegeben, um aus der Sammlung von tropischen Sträuchern in Basel einen Kaffeestrauch zu erhalten. Die Reise nach Basel, das Verhandeln mit dem Verwalter des botanisch-exotischen Gartens, bis hin zur Bestechung des Gartenknechts, das Verpacken des Strauches, der Transport durch das nächtliche Basel, wo der Tagelöhner Zeuge eines Mordes wurde, wie er sich herausredete bei der Kriminalpolizei, was er da im grossen Paket mit sich führe, ja wie er selber verdächtigt wurde, der Mörder zu sein durch sein auffälliges Benehmen etc.

Schliesslich gelangte er trotzdem nach Hause an die kurze Gasse. Es gelang ihm, den Strauch in einem grossen Topf zu kultivieren, den er in der ärmlichen Stube gleich neben dem Specksteinofen aufstellte. Endlich Erfolg, eine kleine Ernte der Kaffeebohnen ergab einen Krug Kaffee, zu dessen Genuss er die ganze kurze Gasse, alle deren Bewohner einlud. Bei diesem Fest wurde dann beschlossen, die Gasse solle fortan nicht mehr «Kurze Gasse», sondern «Kaffeegasse» genannt werden. Doch auch hier erhob sich Widerstand aus dem Dorf unten an der Kreuzung, wo die Familie Roth wohnte, die sich als habliche Bauernleute den Kaffee leisten konnten, und die es den Familien Braun, den Tagelöhnern oben an der Kurzen Gasse, beziehungsweise neu «Kaffeegasse», nicht gönnen mochten in den Genuss von Kaffee zu kommen. Zwischen Roth und Braun entstanden nicht geringe Streitereien, es soll, so wurde gemunkelt, sogar zu Handgreiflichkeiten, Schlägereien mit Dreschflegeln und Heugabeln, gekommen sein.

Doch zuletzt siegte die Vernunft und zu einem grosses Versöhnungsfest wurde auf der Kreuzung hinter der Kirche eingeladen, der Pfarrer soll von der Friedhofmauer eine grosse Rede, einen flammenden Aufruf für Gerechtigkeit und Frieden gehalten haben. Bei diesem Fest sei zu Ehren der Gasse nicht Wein oder Most, sondern viele Liter Kaffee getrunken worden sein. Seither gemahnt der Name Kaffeegasse das ganze Dorf, dass man besser und friedlicher lebe, alles bei einer Tasse Kaffee zu besprechen, statt sich durch alkoholische Getränke zu Streit und Unfrieden aufputschen zu lassen. Der alljährliche Brauch dieses Versöhnungsfestes zu gedenken, sei leider mit der Zeit wieder in Vergessenheit geraten, nicht aber der Genuss des Kaffees.» (uok)

Quelle: Walter Steger, geboren 1936, Theologe, Pfarrer von 1987 bis 2001 in Altnau, wo er auch heute noch lebt.