Die Gärten und Marktstände sind voll mit frischem Gemüse. Ab August bis Oktober ist in der Schweiz die Zeit der Artischocken-Ernte. Seit 2012 kultiviert der umtriebige Bio-Bauer und Beizer Jürg Wirth (48) im Unterengadin jährlich bis im Oktober rund 400 Artischocken an. Diese wachsen auf 1'432 Meter Höhe im bündnerischen Lavin. Kein klassisches Anbaugebiet des wärmeliebenden, mediterranen Kardengemüses, aber Anfang August sind sie auch im Engadin reif. Seine «Berg-Artischocken» sind vermutlich «die höchstgelegenen Artischocken Europas». Er verkauft die Gemüsedisteln im Tal oder brennt daraus einen Schnaps.

Viel Pflege brauchen sie nicht. Das Jäten – «ein Kreis rund um die Pflanze genügt» – und das Lockern des Bodens übernehmen teilweise seine Zivildienstleistenden. «Die Artischocken aus Lavin sind die besten, sie sind hochintensiv im Geschmack», ist Dennis Remo Brunner, Ex-Küchenchef des Hotel Waldhaus in Sils Maria überzeugt. Er ist Koch mit Leib und Seele und wechselte ins «Pier 69» nach Bregenz am Bodensee. Das beweist der «Tüftler» aus Vorarlberg mit Neugier und Faible für Unkonventionelles.

Artischocken aus dem Tägermoos

Ortswechsel. «2013 fing ich an, Artischocken auf unserem acht Hektaren grossen Ziegelhof in Tägerwilen anzupflanzen», sagt Marc Böhler (41), Gemüsegärtner und Pächter im Thurgauer Anbaugebiet Tägermoos. Er habe eine Sorte von Bio-Artischockensetzlinge bei Beat Jud in Tägerwilen gekauft und heuer ein Feld von rund 250 Quadratmetern damit belegt. Die schöne Distel sei nicht sehr anspruchsvoll. «Wir haben unten auch eine Mulchfolie gelegt und machen – als Bio Suisse-Knospen-Betrieb – eine biologische Düngung. Heuer hatten wir viele Läuse an den Pflanzen – die Marienkäfer haben sie gemocht!» In Böhlers Gemüseanbaubetrieb mit zehn Angestellten und Hauslieferdienst in der Ostschweiz, suchen sie immer wieder spezielle Dinge aus.

Die prächtigen Artischocken geben teilweise in die Gemüsekiste ihrer vielen Kunden zwischen Rorschach, St. Gallen, Winterthur und Stein am Rhein mit. Zudem beliefern sie auch Gourmetrestaurants mit diesem besonderen Gemüse. Vor allem der Spitzenkoch und Inhaber des Restaurant «Seegarten» in Kreuzlingen, Peter Günter, sei «ganz scharf auf das feine Gemüse». «Wir lassen», so Marc Böhler, «auch einen Teil der Diestel aufblühen und verkaufen sie an das Blumengeschäft Floristica von Gabriela Schmidhauser in Tägerwilen.» Seine Artischocken sind mehrjährig, falls der Winter nicht zu kalt ist! Sonst erfrieren sie.

Einige Tonnen aus dem Stammertal

Auch auf dem grossen Feld von Daniel Reutimann und Magdalena Elmiger in Guntalingen im zürcherischen Stammertal wird seit August gearbeitet. Um sechs Uhr morgens sammelt der Biobauer von Hand Artischocken, schneidet sie und wirft die 100 bis 500 Gramm schweren Köpfe mit gekonnten Würfen in die grosse weisse Kunststoffkräze oder Bückte, die er am Rücken trägt. Grüne und violette Köpfe recken sich am südlichen Dorfrand dem Himmel zu. Je nach Anbaujahr ist das Feld bis zu 80 Aren gross. Es ist vermutlich das grösste Artischockenfeld der Schweiz. Bis zu 6000 Pflanzen haben sie und ernten mehrere Tonnen Artischocken pro Jahr. Das milde Klima des Zürcher Weinlandes bekommt der Kultur, die bislang in der Schweiz nur an ein paar wenigen Orten wächst. Die helvetische Artischockensaison verläuft anders als jene in Italien und Frankreich (Bretagne): Dort wird teilweise zwei Mal pro Jahr geerntet.

Innovativ  

Heinz und Doris Morgenegg bauen im schaffhausischen Hemishofen seit fünf Jahren auf einem Acker südwestlich des grossen Hofes drei Aren Artischocken an. Sie betreiben biologischen Gemüse- und Ackerbau (Bio Suisse-Betrieb, Umstellung auf biologisch-dynamische Demeter-Qualität). «Es sind etwa zwei bis drei Aren und die Artischocken gedeihen bei uns prächtig. Wir verkaufen sie auf den Märkten in Frauenfeld, Winterthur und Zürich und vor allem online auf www.bionline.ch. Von der Artischocke bis zum Zuckermais bieten wir eine grosse Palette von über 2'000 Produkten an Bioprodukten an», sagt der Schaffhauser Bauer und Gemüsefachmann Heinz Morgenegg (49).

Selbstvermarkter bieten Artischocken für ein bis fünf Franken das Stück – je nach Grösse und Qualität – bis im Oktober an. Die Bio-Bauern Heinz und Doris Morgenegg vom Bolderhof in Hemishofen (SH) verkaufen ihre Artischocken zum Kilopreis von rund zwölf Franken. Französische «artichauts» gibt's in Bio-Qualität für 8 bis 9 Franken. Coop importierte bereits im Februar schöne Artischocken für 1.50 Fr. pro Stück aus Spanien. Globus-Delicatessa bietet im Artischocken zum Stückpreis von 3.20 Fr. an, ausserdem italienische Baby-Artischocken 21.90 Fr./kg an. Spanische sind für 6.90 Fr./Stück zu haben. Im Bio-Geschäft «Lindenmühle» in Andelfingen beträgt der Stückpreis 3.40 Franken. Grossverteiler Migros bietet momentan französische Artischocken für zwei Franken an – das Stück. Auch in Wein, Essig oder Olivenöl usw. eingelegte Artischockenböden im Glas sind im Sortiment.

Ausländische Sorten erobern den Markt

Fünf Sorten Artischocken werden bei uns hauptsächlich angebaut. Die Hauptsorte ist eine Grüne aus Spanien («JW 106»). Eine andere ist die purpurfarbene «Opera», sowohl als Gemüse-Artischocke wie auch zur Blütenproduktion geeignet. In der Schweiz werden unter anderem folgende konventionellen Artischocken-Hybridsorten für den professionellen Anbau verwendet: «Madrigal», «Symphony», «Opal» und «Opera». Sie werden von der deutschen Hild Samen GmbH in Marbach am Neckar vertrieben. Überwiegend findet die Hybridzüchtung bei Artischocken in Kalifornien und Spanien statt. Artischocken-Setzlinge produziert unter anderem der Bio-Jungpflanzenspezialist Beat Jud im thurgauischen Tägerwilen.

«Die zarten Artischocken sind ein Renner»

Rund elf Tonnen Artischocken-Herzen aus Spanien, Italien und der Schweiz verarbeitet die Ceposa AG in Kreuzlingen am Bodensee. Die 1999 von Hanspeter und Yvonne Baer-Rüedi gegründete Manufaktur mit 50 Mitarbeitenden hat sich auf Antipasti spezialisiert und führt rund 80 mediterrane Produkte im Sortiment. «Die zarten Artischocken sind ein Renner. Wir legen sie in bestes Schweizer Rapsöl von Florin AG in Muttenz ein. Der pure Genuss», schwärmt Mitinhaber Hanspeter Baer. Alles andere Gemüse wie Auberginen, Zucchini usw. kauft das Thurgauer Unternehmen bei Schweizer Bauern. Baer: «Wir verarbeiten rund 1,5 Tonnen einheimisches Gemüse pro Woche.»

Artischocken von Pro Specie Rara

Was früher normal war, nämlich sein eigenes Saatgut zu produzieren, geriet für längere Zeit in Vergessenheit. «Heute jedoch wächst die Unzufriedenheit darüber, dass die weltweite Lebensmittelproduktion in den Händen weniger grosser Konzerne liegt, die über das Saatgut – Ursprung der meisten Lebensmittel – eine unglaubliche Macht ausüben können», schreibt «Pro Specie Rara», die Schweizerische Stiftung für die kulturhistorische und genetische Vielfalt von Pflanzen und Tieren. Im Zuge dieses Bewusstwerdens werde auch das selber Vermehren von Saatgut wieder aktuell – gerade bei der jüngeren Generation von Gärtnern. «Saatgut-Tauschgruppen in den sozialen Medien spriessen wie Schneeglöckchen aus dem Boden.»

Pro Specie Rara hat momentan fünf Artischocken-Sorten in Erhaltung. «Wie alle anderen samenvermehrbaren Gemüsearten auch, sind es primär Privatgärtner, die bei uns den Samenbaukurs besucht haben, welche die einzelnen Sorten bei sich im Garten vermehren und uns das frische Saatgut an die Samenbibliothek zurück schicken. Von drei der fünf Sorten bieten diese Privaten auch über unseren Sortenfinder Saatgut an», sagt Nicole Egloff, Sprecherin von Pro Specie Rara. Gönner der 1982 in St. Gallen gegründeten Organisation – das ist man mit einem Jahresbeitrag von 70 Franken – können über den Sortenfinder zumeist kostenlos Saatgut von über 600 Gemüse-, Kräuter- und Zierpflanzensorten bestellen – darunter eben auch drei Artischockensorten. Anschauen kann man sie unter anderem in ihren diversen Schaugärten oder am Pro Specie Rara-Hauptsitz in den Merian Gärten bei Basel. Unter anderem auch die grosse und altbewährte Sorte «Grüne von Laon» (VG-1654). Sie wurde 1878 schon im Sortenkatalog von Wyss Samen und Pflanzen (Zuchwil) erwähnt.

Sie gehören zu den Stauden

«Artischocken waren früher sehr frostgefährdet. Mit den neuen Sorten, welche im Januar warm angezogen, in Töpfe getopft und im Mai ausgepflanzt werden, hat sich die Kultur vereinfacht. Sehr wichtig im Winter, wenn sie im Freiland bleiben, ist ein guter Wasserabzug», sagt Peter Lippus, Gärtnermeister aus Widnau SG. Die laufenden Kulturarbeiten sind relativ einfach: Düngung, Unkrautbekämpfung, Bodenlockerung, Schädlings- und Nützungskontrolle usw. Der weitere Wachstumsverlauf sei, laut Biobauer Daniel Reutimann, vergleichsweise anspruchslos.

Die Artischocken sind mehrjährige Stauden. Allerdings überwintern sie bei uns nur in milderen Lagen. «In den letzten Wintern – die nicht so hart waren – ist es aber ganz gut gelungen, zumindest in unseren Gärten in Basel und Wildegg AG. Solange die Pflanze lebt, bildet sie auch jedes Jahr Blüten, die entweder gegessen werden können oder einfach blühen gelassen werden», sagt Mira Langegger, Gemüsespezialistin bei der Stiftung Pro Specie Rara in Basel

«Gegessen wird der Boden, sonst nichts»

Wir essen also die eine Artischockenblüte, bevor die Blütenblätter sich öffnen. Gegessen wird der Blütenboden der noch geschlossenen Blüte sowie das verdickte Ende Hüllblätter der Blüte. Das sogenannte Stroh befindet sich in der Blütenknospe oberhalb des Blütenbodens. Mira Langegger von der Stiftung Pro Specie Rara in Basel: «Bei der offenen Blüte werden daraus die violetten Blütenblätter die aber nicht wie eigentliche Blätter aussehen, sondern wie violette Fäden.»

Die Herzen frischer Artischocken gelten nicht zufällig als Inbegriff luxuriösen Gemüses, durchaus vergleichbar mit dem Nimbus von Spargel vor zwanzig Jahren. Ihr Geschmack ist zart und ziemlich einzigartig, vor allem, wenn sie ganz frisch sind. In Italien oder Frankreich isst man die jungen Blätter und das Herz roh, dünn geschnitten, mit Zitrone und Olivenöl angemacht – dann kitzeln sie Gaumen und Zunge mit eigentümlichem Prickeln; in Spanien werden sie in Mehl gewendet und in Olivenöl knusprig frittiert. Italiener grillen oder schmoren die Herzen mit Gemüsezwiebeln, um sie lauwarm, mit Parmesanspänen und Petersilie, als Antipasto zu servieren.

Böden, Blätter oder beides? An dieser Frage scheiden sich die Geister. Der deutsche Gastrokritiker Wolfram Siebeck schrieb 1999 in der Wochenzeitung «Die Zeit»: «Man muss sich schon Mühe geben mit dieser Distel, und Mühe bedeutet Arbeit. Gegessen wird von der Artischocke der Boden, sonst nichts. Ich erinnere mich an die Zeit der Pfeffersteaks, da sassen wir am Tisch und zupften die Blätter von den weich gekochten Artischocken und kauten auf deren weichem Ende herum. Eine langweilige Beschäftigung ohne kulinarischen Gewinn, die wie das Steak aus der Mode gekommen ist.»

Genussvolle «Alpen-Artischocken»

Der bekannte Schweizer Spitzenkoch Oskar Marti alias «Chrüter Oski» aus Meggen (LU) ist ein Artischockenfan und schätzt «die sehr schöne Pflanze». Am zischenden Herd mit deftiger Küchensprache tönte es in seiner Lehrzeit so: «Oh, die alten müssen wir auch noch machen!», erinnert sich Marti (71). «Artischocken klassisch zubereitet und zelebriert ist ein Essritual wie ein Fondue. Da hat man zum Essen Zeit, kann reden und es ist ein wunderbares gesellschaftliches Vergnügen.» Sein Rat: Statt im Sommer Melone zu servieren, gleich frische geerntete Artischocke mit Sauce Vinaigrette auf den Tisch – so wie in Frankreich!

Marti verwendete in seiner Küche auch immer wieder mal die Blütenboden der Silberdistel, auch «Jägerbrot» oder «Alpen-Artischocken» genannt. Er sammelte die stachelige Pflanze auf seinen Bergwanderungen, als sie noch nicht unter Naturschutz stand. Blätter oder Blütenböden mancher Disteln sind als Gemüse bekannt und beliebt – so wie heute noch die Gemüse-Artischocke, ebenfalls eine Distelart, als Delikatesse gezogen wird.

Alpengarten «Schynige Platte»

Im Alpengarten «Schynige Platte» bei Wilderswil auf 2'000 m ü. M. wachsen momentan 15 bis 20 Distelarten, unter anderem auch die Silberdistel (Carlina acaulis ssp. caulescens). Diese kommt relativ weit verbreitet vor, wurde früher auch als Heilpflanze verwendet und die Blütenböden als Nahrungsmittel gegessen. «Davon ist aber abzuraten, da die Pflanzen so nicht mehr ihre Samen ausbreiten können und die Bestände rasch gefährdet werden! Etliche Distelarten, vor allem auch aus tieferen Stufen sind geschützt. Auch gibt es kantonale Bestimmungen», bestätigt Elsbeth Honegger vom Alpengarten «Schynige Platte».

Artischockenblüten begehrt

Artischocken werden beispielsweise in den Thurgauer Bauerngärten eher selten angebaut. Weshalb? «Zum einen sind es sicher die klimatischen Bedingungen, zum andern aber der eher karge Ertrag der Pflanze. Setzlinge zu erhalten ist zudem nicht immer einfach», vermutet Daniel Brogle, Gärtner und Lehrer am Bildungs- und Beratungszentrum Arenenberg BBZ in Salenstein (TG). Zudem braucht die Pflanze reichlich Platz.

In langen und warmen Jahren, wenn die Pflanze zur Blüte kommt, ab etwa Mitte August, verwenden heute viele die bläulich-lilafarbene Röhrenblüten für den Blumenschmuck. Die Artischocke, dass wissen nur wenige, hat ein sehr intensives Blau aufzuweisen. Die offenen Artischockenblüten sind bei Insekten auch sehr beliebt. Die Artischocke ist nicht nur ein hervorragendes Gemüse, sie macht sich im blühenden Zustand auch gut als Tischdekoration. Auf den Märkten sind die Blüten heute vermehrt zu finden.

Lässt man die Distel weiterwachsen, entwickelt sich daraus eine faustgrosse, blau-violette mit bis zu zehn Zentimeter Durchmesser grosse Korbblüte. Peter Konrad, ehemaliger Leiter Gemüse- und Beerenbau am Bildungs- und Beratungszentrum Arenenberg BBZ in Salenstein TG, hatte bereits in den 1980er-Jahren mit Bruno Kressebuch (Ex-Leiter der Schulgärtnerei) am Arenenberg versuchsweise Artischocken zur Trockenblütengewinnung für Herbst- und Wintergestecke und weniger für die Ernährung angebaut. «Die aufgeblühte Artischocke ist eine Sensation: Riesige, wunderschöne, blaue und violette Blüten, die sich auch in der Vase viele Tage lang wie prächtige Skulpturen machen», weiss Peter Konrad. Die gefragten Artischockenblüten werden heute zum Stückpreis von drei bis neun Franken (je nach Grösse) auf den Märkten und Geschäften verkauft und machen einen ansehnlichen Teil des Betriebsumsatzes der Produzenten aus.

Gärtnermeister Peter Lippus empfiehlt Artischocken auch in Steingärten zur Zierde zu setzen. Sehr gut eignet sich auch Cardy, die «Spanische Artischocke» (Cynara cardunculus).

Artischocken sind interessante Pflanze, ein kulinarisches und floristisches Vergnügen und rundum gesund.