von Romeo Brodmann (Text)

Am 24. April des Jahres 1991 erschien eine ganzseitige Anzeige in der Neuen Zürcher Zeitung NZZ. Darauf war unter dem Titel „Wir von Felchlin“ das Leitbild abgebildet. Darunter stand folgender Text:

 

Wir suchen einen Menschen

(Frau oder Mann) zur Nachfolge

des Inhabers Max Felchlin (68).

Er hat dieses Leitbild geschrieben

und versucht zu leben.

 

Zeitbudget ca. 2 Jahre.

Melden Sie sich bitte heute  noch

ohne Unterlagen bei der

Firma Max Felchlin AG in Schwyz.

 

Max Felchlin Junior suchte keinen Nachfolger, keinen CEO. Er suchte einen Menschen. Das können sich all die zeitgenössischen von der stromlinienförmigen Human-Ressources-Industrie genormten und entscheidungsunfähigen Personalverantwortlichen gar nicht mehr vorstellen: Den Mut zu haben, ausserhalb der Leitlinien und industriellen Handlungsnormen zu denken, geschweige denn zu handeln.

Das Leitbild von Max Felchlin Junior ist glasklar, durch und durch unternehmerisch von Wirtschaftlichkeit geprägt und gleichzeitig von bodenständiger Menschlichkeit und von Respekt fundiert. Dabei war sich Max Felchlin Senior ganz und gar nicht sicher, ob er das Unternehmen seinem Sohn übergeben soll.

Den Schwyzer Menschen der 50er und 60er Jahre musste Max Felchlin Junior den Eindruck eines zu wild gewordenen Mustangs erweckt haben. Handelsmatura im Kollegium Schwyz, Unternehmensberater in New York. Weltreisender. Er setzt sich mit unternehmerischen Dimensionen auseinander, die für die hiesigen Menschen damals nicht fassbar waren. Und der Senior selbst, der sein Unternehmen 1908 mit dem Handel von Honig gründete, wusste wohl auch nicht recht,was er von seinem Junior und seinen beruflichen und weltmännischen Kapriolen halten sollte.

Dabei war es der Senior selbst, der ausserhalb aller damaligen Grenzen dachte und damit in der Lage war, 1924 den Backkunsthonig zu erfinden, 1937 die Praliné- und Nougatmasse zu kreieren und sie Pralinosa zu nennen. Und 1943, mitten in den dunkelsten Niederungen des 2. Weltkrieges, sprang er seine eigene Kapriole. Er erfand sein Crèmepulver und nannte es „sowieso“.

1970 stirbt Max Felchlin Senior im Alter von 87 Jahren. Und Irgendwie hat er sich vorher quand même durchgerungen, das Unternehmen seinem Junior zu übergeben. Dieser stand dem Senior in nichts nach. Eine handfeste Episode seines Pragmatismus – der das Unternehmen nachhaltig prägen sollte - aus den Geschäftsmemoiren: Max Felchlin Junior wollte seine Backmassen portioniert verpacken. Damals gab es aber noch keine Maschinen für solche Bedürfnisse. Kurzerhand kaufte er eine Wurstmaschine und füllte damit die Masse in Kunstdärme ab. Fertig.

Und genauso schrieb er auch das Leitbild, das wie folgt begann:

 

„Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste“

Goethe
Wir von Felchlin

Durch Dienste wollen wir Geld verdienen - frei, ehrlich, heiter und optimistisch. (...)

 

Das zentrale Wort dabei war „frei“.

„(...)Wir wollen frei bleiben durch finanzielle Unabhängigkeit. (...)Wir müssen Geld verdienen. Wenn wir kein Geld verdienen, schaden wir der Heimat. Nur mit regelmäßigen Reingewinnen können wir Löhne, Rechnungen und Steuern bezahlen, unser Wachstum finanzieren und auf die Dauer das sein, was wir sein wollen: Ein guter Industriebürger.“

Ein freier, guter Industriebürger. Was für ein Inhalt, was für eine Wortkreation. Max Felchlin Junior wusste ganz sicher um Kants Position, dass alleine die Motivation ausreicht, um etwas zu erreichen. Bewusst oder unbewusst - er brach den Kernsatz des Philosophen „ich kann, weil ich will, was ich muss“ auf und liess das „müssen“ weg. Stattdessen positionierte er sein Leitbild auf eine heute nahezu inexistente heimatverbundene Menschlichkeit mit „All dies wollen wir versuchen“.

1991, nach Erscheinen der Anzeige „Wir suchen einen Menschen“ meldeten sich zwischen 60 und 80 Bewerber, die die Nachfolge von Max Felchlin Junior antreten wollten. Er lud alle aufs Mal zu einer Betriebsbesichtigung ein. Auch hier zeigte sich der eigenwillige Pragmatismus des Juniors. Gut 30 kamen. Darunter ein junger Lebensmittelingenieur von der Lindt-Schokoladenfabrik.

Mit ihm, Christian Aschwanden, führte er Gespräche – dann liess Felchlin nichts mehr von sich hören. Im Inserat stand ja auch eine Zahl: „Zeitbudget: ca. 2 Jahre“. Ganz so lange dauerte es dann doch nicht. Doch immerhin Wochen, Monate. Irgendwann gegen 22 Uhr klingelte bei Aschwanden das Telefon. Ob er Zeit habe. Jetzt? Ja, jetzt. Um 22.30 sass er in der Stube von Max Felchlin Junior und sah sich mit der Frage konfrontiert, ob er die Nachfolge antreten wolle.

Die Max Felchlin AG in Schwyz ist eine Firma, die noch mit urschweizerischen Werten funktioniert, die es heute im Zeitalter der Anwälte, eigentlich gar nicht mehr so gibt. Hier gilt ein Handschlag bis heute. Christian Aschwanden hat bis dato keinen schriftlichen Vertrag, sondern einen Handschlag vom Patron höchstselbst. Max Felchlin Junior wollte ja auch keine Unterlagen sehen, sondern stattdessen das Zuhause von Aschwander besichtigen, seine Frau kennenlernen und sehen, was er für Bilder an der Wand hängen hat.

Und bevor er das alles durchzog, gründete Felchlin 1990 den „Verein zur Förderung der Wirtschaft und des Kulturschaffens“ im Kanton Schwyz. Es war seine Vorsorge und Garantie, dass die 1974 gegründete Aktiengesellschaft Max Felchlin AG frei bleiben würde – es war, anbei bemerkt, auch dasselbe Jahr, indem er in Ibach Schwyz eine neue Fabrik baute. Der Verein hat den ausschliesslichen Zweck, die Aktiengesellschaft stimmenmässig zu kontrollieren und frei zu halten.

Max Felchlin Junior lernte und sah als Unternehmensberater in den USA wohl früh, was auf diese Welt zukommen würde. In der grosskapitalistischen und entmenschlichten Welt von heute, geprägt von der Gier nach mehr, würde eine Firma wie die Max Felchlin AG von einem Grosskonzern mit der Portokasse aufgekauft, das Knowhow extrahiert, die Perlen veräussert und dann dichtgemacht werden. Max Felchlin Senior wäre auf Max Felchlin Junior stolz gewesen, hätte er das Erreichte noch erleben können.

1992 übernimmt Christian Aschwanden die Führung dieses Kleinods. Max Felchlin Junior räumt das Büro und zieht mit den Worten aus dem Stammhaus aus: „Ich will ihnen keine Schwiegermutter sein“. Im selben Jahr stirbt Max Felchlin Junior und auch er wäre wohl stolz – auf Aschwanden und auch auf sich selbst – wenn er sehen könnte, was aus der Max Felchlin AG geworden ist. Er hat alles richtig gemacht. Punkt.

Allerding war auch nicht alles Gold was glänzte, was Christian Aschwanden übernahm. Die Produktionsanlagen – die Fabrik in Ibach – war im Grunde genommen ein „Schuppen,“ der hygienisch bedenklich, hoffnungslos veraltet und gelinde gesagt nicht mehr „state oft the art“ war.

Als er die Produktionsanlagen erneuern will, sieht er sich als Erstes mit dem langen Arm und dem Erbe von Max Felchlin Junior konfrontiert. Dieser war zeitlebens begeistert vom Reisen, von fernen Ländern und Kulturen. Er war auch der Erste, der in den 60ern einen Artikel über die Kulinarik in Japan in der NZZ publizierte. Eine Delegation von Japanische Kunden besuchte die Max Felchlin AG und Christian Aschwanden mit der eindringlichen Bitte, dass ihre Schokolade weiterhin mit den alten Maschinen hergestellt werden solle.

Das ist wohl mitunter ein entscheidender Grund, weshalb bei Felchlin immer noch die alten Längsreiber schonend laufen, mit der die Schokolade conchiert, langsam erwärmt und die Luft untergezogen wird, die Säuren herausgearbeitet und die Aromen entfaltet werden.

Mit Aschwanden änderte auch die Art der Führung. Entgegen aller Menschlichkeit, die Max Felchlin Junior lebte, in der Entscheidungsfrage muss er eindeutig ein harter Patriarch gewesen sein. Er war das Familienoberhaupt, das entschied, was wie und wann gemacht wurde. Es war ein direktiver Führungsstil. Aschwanden dagegen pflegte und pflegt die partizipative Art, die Menschen an Entscheidungen, Entwicklungen und den daraus folgenden Umsetzungen beteiligt.

Es scheint, dass das kein Widerspruch ist. Die menschliche Art mit dem Bestreben nach Freiheit ist eine Grundlage, die offensichtlich beide Arten der Führung zulässt. Jedenfalls überlegte man sich bei Felchlin, wie die Zukunft gestaltet werden sollte. Die Antwort kam 1999 mit der Crand Cru Schokolade aus edelsten Cacaosorten.

Dazu ist es wichtig zu wissen, dass es nicht einfach einen Cacaobaum, eine Cacaofrucht und eine Cacaobohne gibt. Und wenn Aschwanden dies erklärt, ist der Lebensmittelingenieur im Element. Es ist wie mit Äpfel und Birnen. Sowohl die Äpfel als auch die Birnen beinhalten eine unglaubliche Sortenvielfalt. Es gibt Apfel-oder Birnensorten mit unglaublicher Aromen- Säuren- und Fruchtzuckervielfalt. Oft ist es aber so, dass die besten Sorten in der Wirtschaftlichkeit schwierig sind. Z.B. anfällig auf klimatische Schwankungen, Krankheiten, nur bedingt haltbar etc.. Mit dem Cacao ist es dasselbe. Deshalb haben die Giganten unter den Schokoladeproduzenten sich auf wenige resistente und einfach zu handhabende Sorten und auf wenige Anbaugebiete hauptsächlich in Afrika konzentriert.

Hierbei lässt sich 1 und 1 einfach zusammenzählen – die Max Felchlin AG unter Leitung von Christian Aschwanden tat genau das Gegenteil von Allen und Allem. Es wurden die edelsten, geschmackvollsten und aromareichsten Sorten in den ursprünglichen Anbaugebieten, vornehmlich Mittel- und Südamerika, gesucht, gefunden und verarbeitet. Schokolade ist plötzlich kein uniformes Industrieprodukt aus einer Cacaosorte von einem Kontinent mehr – wie grob geschätzte 70 bis 80 Prozent – sondern ein Terroir bezogenes Naturprodukt mit Ursprungsbezeichnung, bei dem Böden, Klima und Sorten die Töne respektive die Geschmäcker und Aromen angeben.

Apropos den Ton angeben. Wer Felchlin am Hauptsitz in Schwyz besucht, bekommt zuerst einmal den Geist des Patriarchen zu spüren. Der Besucher steht vor der schweren, respekteinflössenden Holztür. Klingeln und eintreten steht da. Es gibt keinen Empfang, doch sofort steht jemand da, der einem empfängt. Und in dem schmalen altehrwürdigen Entrée, das einem Schlauch gleichkommt, steht man sinnbildlich erst einmal im Gaggo. Man weiss nicht, ob man mit dem Rücken zur Wand oder an der Türe stehen soll. Links oben offensichtlich das Büro des Patrons, rechts unten das Sekretariat. Es ist das Gefühl einer diametralen Verschobenheit die sich breitmacht. Bald schon ein kleinwenig Kafkaesk. Eine knarrende Holztreppe führt hinauf in die Büros. Die Menschen gehen hinauf. Die Menschen kommen hinunter. Es ist ein hin und her. Die Treppe knarrt. Überall offene Türen. Ein reges Treiben hinten und vorne am Besucher vorbei und alle Menschen freundlich grüssend.

Das muss man sich schon einmal zu Gemüte führen. Ein automatischer Spannungsaufbau, was für ein Patron hinter der Türe links oben wartet. Das ganze Haus, die Atmosphäre warm. Und beim Betreten des Büros  zum Mensch, der Felchlin seit 24 Jahren führt, getaucht in das milde Licht der Dezembersonne, das durch die grossen Fenster flach einfällt und den Raum nachhaltig durchdringt. Christian Aschwanden nimmt sich fast zwei Stunden Zeit zu erzählen, Ordner mit alten Dokumenten aufzuschlagen und Bilder eines Unternehmens zu malen, das längst ausgestorben zu sein schien, doch hier und jetzt plötzlich eine Zukunft verheisst.

Diversifikation anstatt Masse. Qualität und Nachhaltigkeit anstatt Gier nach mehr. Die Max Felchlin AG ist eine Produzentin für Produzenten. Im heutigen Jargon nennt sich das B to B – Business to Business. Verantwortung und Nachhaltigkeit zeichnen sich durch kleine Dinge aus. Zum Beispiel die Antwort Aschwanders auf die Frage, ob sie auch rohe Kakaobohnen und Know How an Produzenten liefern, die Ihre Schokolade von Grund auf selber herstellen wollen. Es ist ein deutliches Jein. Der Cacao ist ein Naturprodukt direkt aus dem Urwald, vorort fermentiert und sonnengetrocknet. Die Verschmutzungen durch Keime, Dreck und Steine sind nicht vermeidbar – doch Felchlin liefert nur saubere Ware, das ist ein Grundsatz. Die Cacaobohnen werden also zuerst einmal von Dreck, Steinen und dergleichen gereinigt, dann werden die Bohnen mit Dampf sterilisiert, aufgebrochen und geschält. Ab diesem Arbeitsschritt wird geliefert, ob roh oder geröstet. Ob ganz, gebrochen oder gemahlen. Ob als Cacaomasse oder als verarbeitungsfertige Schokolade. Wie auch immer. Know How wird auf Wunsch mitgeliefert.

Hier entspricht die Max Felchlin AG dem Gegentrend des globalen Gigantismus, der in den nächsten Jahren kommerziell einsetzen dürfte. Die Entwicklung wird wohl zurück zu den kleinen Schokoladen- und Confiserie-Manufakturen und der geschmacklichen Vielfalt führen. Es wird eine ähnliche Entwicklung wie beim Bier sein – die Klein- und Kleinstbrauereien schossen und schiessen aus dem Boden und etablieren sich. Dort fehlt im Grunde nur noch, dass die Branche noch wegkommt von den wenigen verbliebenen Hopfenpelets- und Malzproduzenten mit Industriestandard, die das Bier austauschbar machen. Es ist lediglich eine Frage der Zeit bis wieder lokale Mälzereien und Hopfengärten entstehen. Das dürfte so auch in der Schokoladenszene der Fall sein. Die technische Ausrüstung ist auf ein bezahlbares Niveau gesunken, das Know How ist verfügbar und die Rohprodukte sind parat. Der Markt steht mit dem Bedürfnis nach Qualität bereit und es ist lediglich eine Frage der Zeit, bis wieder lokale Schokoladenproduzenten mehr und mehr entstehen, da ist sich Christian Aschwanden sicher. Sowieso.