Es sei gar nicht so einfach, den Obstbauschnitt richtig zu erklären, da viele physiologische Einflüsse – welche beispielsweise die Qualität der Früchte, die Ertragsmöglichkeiten etc. beeinflussen – mitspielen, meint Urs Müller, Leiter Obst Gemüse Beeren am Bildungs- und Beratungszentrum BBZ Arenenberg in Salenstein TG. «Dann kommen natürlich Kostenfaktoren, Mechanisierung und Marktansprüche hinzu. Schlussendlich auch die Person, die einen Baum schneidet – und dies ist jetzt definitiv nicht jedermanns Sache. Man kann Bäume sehr gut so schneiden, dass gar keine Früchte mehr daran hängen. Diese Bäume sehen dann aber eher wie gerupfte Hühner statt wie Bäume aus.»

Baumfachmann Hans Forster ergänzt: «Wir verjüngen den Baum. Die Äste, die herunterhängen, stellen wir auf und das jüngere Holz soll sich gut entwickeln.» Zu den Gründen, warum ein ausgiebiger Schnitt den Baum gesund hält, zählt zum Beispiel, dass er mehr Licht und Platz zum Leben erhält, wenn man das Innere der Baumkrone ausdünnt. Blätter und Zweige können dann schneller trocknen, sodass beispielsweise die Gefahr von Krankheiten wie Pilzbefall minimiert wird.

Wichtig sei auch, das die Schnitte glatt sein müssen. «Kleine Schnittflächen sind gut. Wir wollen möglichst wenig grosse Wunden am Baum hinterlassen. Nur starke Äste können viele Äpfel tragen», fügt Forster an. Zudem entfernen die Profis akribisch Wasserschösslinge, denn diese setzen keine Früchte an, machen dem echten Fruchtholz aber Nährstoffe und Sonnenlicht streitig. Diese einjährigen Triebe entstehen aus schlafenden Augen oder Adventivknospen.

Hochstammbäume: Ökologisch wertvoll

Die Ostschweiz produziert rund 70 Prozent des Mostobstes in der Schweiz. Vor allem 2018 gab es beim Thurgauer Mostobst eine Riesenernte und die Tendenz ist steigend. Arbeit für Baumschneider gibt es deshalb genug. Hochstammobstbäume gehören inzwischen zu ökologisch wertvollen Elementen in einer traditionellen Landschaft. Leider aber gelten hochstämmige Obstanbauanlagen als zu wenig rentabel und wurden und werden deshalb vielerorts durch Hochleistungsplantagen ersetzt. Momentan nehmen die Hochstämme jährlich um zirka tausend Bäume ab, stärker bei den Birnbäumen, weil für Birnenkonzentrat fast kein Markt besteht. Im Jahr 2019 erfasste das Bundesamt für Landwirtschaft im Kanton Thurgau 243'532 Hochstamm-Feldobstbäume, im Kanton St. Gallen waren es 213'289 beitragsberechtige Bäume.

Fachgerechte Pflege erforderlich

Die landwirtschaftliche Beratungszentrale Agridea in Lindau ZH hat einen Leitfaden für die Praxis zur Erfüllung des Kriteriums der fachgerechten Baumpflege für Hochstamm-Feldobstbäume der Qualitätsstufe I gemäss Direktzahlungsverordnung (DZV) herausgegeben. Das Merkblatt erläutert, welche Kriterien bezüglich einer Pflege von Feldobstbäumen erfüllt werden müssen, um Biodiversitätsbeiträge im Rahmen der Direktzahlungsverordnung des Bundes zu erhalten. Diese Präzisierung erfolgte im Rahmen der Agrarpolitik 2014. Es wird unterschieden zwischen Qualitätsstufe I (Q I) und Q II. Der Beitrag pro Baum bei Q I beträgt 13.50 Franken, bei Q II 31.50 Franken.

«Ich nerve mich da auch als Steuerzahler, wenn jemand die hohle Hand macht, aber nichts dazu tut. Das Ziel muss man sich vor Augen halten. Mit der Pflege sollen grosse, auch alte Bäume heranwachsen, welche einen ökologischen Wert haben. Ohne Pflege erreicht man das nie», sagt Urs Müller vom BBZ Arenenberg. Die Kontrolle erfolgt im Kanton Thurgau stichprobenartig durch die Gemeindestellenleiter.

Kein Patentrezep

«Wurden früher Hochstämme auch schon einmal 100 Jahre alt, werden heutige Neupflanzungen wohl weder so hoch wie früher noch so alt wie mit althergebrachter Pflege. Hinzu kommt die Ökologisierung. Werden Hochstämme in Ökowiesen gepflanzt, ist dies eben Ökoobstbau, das heisst es funktioniert nicht, gute Erträge zu haben und gleichzeitig Käfer und Siebenschläfer zu fördern», sagt Urs Müller, Leiter Obst Gemüse Beeren am BBZ Arenenberg in Salenstein. Ein Patentrezept für einen sachgerechten Obstbaumschnitt existiere nicht. «Es gibt eine Grundanleitung, der Rest ist Beobachtung, Erfahrung und Einfühlungsvermögen in die Abläufe der Natur.» 

 

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Umfrage Baumschnittgruppen
«Bedarf an Baumschneidegruppen leicht steigend»

Ralph Gilg, Präsident Thurgauer Obstverband, Fruthwilen: «Der Bedarf an Baumschneidegruppen ist aus meiner Sicht leicht steigend, da die Betriebe (Most- und Tafelobst) laufend grösser werden. Es ist deshalb oft nicht mehr möglich, dass der Betriebsleiter die eigenen Obstanlagen im Alleingang schneiden kann. Allerdings ist es auch so, dass grössere Betriebe oft Personal fix anstellen, anstatt mit Schnittequipen zu arbeiten. So kann die betriebsindividuelle Schnitttechnik auf dem ganzen Betrieb einheitlich angewendet werden.» 

Beim Mostobst haben sich mittlerweile Hebebühnen etabliert, welche einen effizienten Schnitt der Hochstämme zulassen und deutlich Arbeitszeit einsparen lassen, weiss Gilg. Ähnliches gilt bei Niederstammkulturen, wo Hebebühnen für den Schnitt der oberen Baumpartien heute praktisch Standard sind. 

«In der Erprobung sind seit einigen Jahren auch Schnittmaschinen, welche den Niederstamm-Bäumen die richtige Kontur (Pyramidenform) geben und damit Schnittstunden sparen. Jedoch ist auch hier ein regelmässiger manueller Schnitt praktisch Pflicht, um die Bäume auszulichten und zu starke Elemente zu eliminieren», sagt Ralph Gilg vom Thurgauer Obstverband.

«Es ist keinesfalls ein neuer Trend»

Edwin Huber (60), Obstfachmann, von 2004 bis 2016 Präsident des Thurgauer Obstverbandes, Neukirch-Egnach: «Ich bin selber schon seit 40 Jahren in einer Baumschnittgruppe dabei und gehe immer noch sehr gerne – leider in den letzten Jahren aus Zeitgründen nur noch selten. In den 1980er-Jahren habe ich von November bis April nichts anderes gemacht, als mit der Gruppe Bäume geschnitten, bis ich den elterlichen Hof 1987 übernommen habe. Auch danach bin ich sicher drei Monate mit der Schnittgruppe unterwegs gewesen. Zuhause hat teils mein Vater die Bäume geschnitten oder wir haben das auch mit der Gruppe erledigt. Also es ist keinesfalls ein neuer Trend. Schon vor uns und mit uns waren andere Gruppen unterwegs. Eine wurde zum Beispiel von der damaligen Firma OBI (heute TOBI) geleitet. Es ist möglich, dass die Nachfrage nach Schnittgruppen eher steigt. Dies zum Teil, weil die Betriebe immer grösser werden und es gar nicht mehr möglich ist, alles selber zu erledigen. Sicherlich ist auch ein Grund, dass es für viele Landwirte kaum möglich ist, während der Vegetation Ferien zu machen. Daher möchte man sich in der ruhigeren Winterzeit mit der Vergabe der Baumschnittarbeit ein wenig Luft verschaffen.» (uok)

«Weil sie daran interessiert sind, dass die Bäume gepflegt werden»

Urs Müller, Leiter Obst Gemüse Beeren am Bildungs- und Beratungszentrum BBZ Arenenberg in Salenstein TG: «Der Trend der Baumschneidgruppen hauptsächlich im Hochstammobstbau ist nicht neu. Es gibt aber auch Gruppen, welche Niederstämme schneiden. Bei den Hochstämmen ist es so, dass es früher eine Baumwärterausbildung mit Ausweis der Obstfachstelle gab. Diese berechtigte, Bäume bei Baumschulen für 30 Rabatt zu beziehen. Diese Zeiten sind aber lange vorbei. Die Hochstammbesitzer – oft ältere Personen, welche eben nicht mehr selber schneiden können – haben Mühe, Personen zu finden, die Hochstämme fachgerecht schneiden können. Mostereien bieten deshalb diesen Service für ihre Lieferanten an, weil sie daran interessiert sind, dass die Bäume gepflegt werden.»

 

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Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL)
Höhere Anzahl an verletzten Senioren mit Arbeiten auf der Leiter festgestellt

«Es passieren gerade beim Hochstammschnitt immer wieder Unfälle, gerade mit älteren Personen. Dazu muss man einfach wissen, dass es eine Passion sein kann, Bäume gut zu schneiden und zu pflegen. Es gibt ein schönes Gefühl, wenn ein Obstbaum nach dem Schnitt in Topform ist», sagt Urs Müller, Leiter Obst Gemüse Beeren am Bildungs- und Beratungszentrum BBZ Arenenberg in Salenstein TG. Für ältere Baumpfleger sei es oft recht einschneidend, wenn sie dies nicht mehr selber machen können. Da wird dann halt schon mal das Alter beiseitegeschoben und die Leiter benutzt. «Etwas nicht tun können oder nur Teile eines Baumes zu schneiden, ist ein Ding, das nicht funktioniert. Man möchte die Arbeit ja perfekt ausführen.»

Im Bereich Obstbau keine Merkblätter

Was die Gefahren betrifft, gilt die allgemeine Unfallverhütung. Die Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) in Schöftland hat wenig Neues zum Thema Baumschnitt. «Grundsätzlich gilt auch, dass ein guter Baumschnitt die Grundlage ist für die Arbeitssicherheit während der Ernte», schreibt Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL) auf unsere Anfrage zur Sicherheit bei Baumarbeiten. Es sei effektiv so, dass in den letzten Jahren im Bereich Obstbau keine neuen Merkblätter und Broschüren erstellt wurden. Das Wissen wurde vor allem in Beratungen, Artikeln in der Fachpresse und in Kursen, die durch die Obstbauern selber organisiert wurden, weitergegeben. Dort wurden natürlich die Präventionsmassnahmen nicht nur bei der Ernte, sondern auch beim Schnitt diskutiert und angeschaut. «Vielleicht finden Sie bei unserer deutschen Partnerorganisation auch noch mehr Infos, die Ihrem Artikel dienen: SVLFG Baumarbeiten», schreibt Cornelia Stelzer, Sicherheitsfachfrau bei BUL in Schöftland.

Bisherigen Broschüren bald in neuem Format

Die BUL durfte sich in den vergangenen Jahren restrukturieren und so sei man daran, im kommenden Jahr die bisherigen Broschüren auf das neue Format «agrisafetyfacts» in Form von Merkblättern umzustellen. «Dabei», so Stelzer, «werden wir vor allem auch denjenigen Bereichen Beachtung schenken, die in der Vergangenheit leider eher etwas marginal mit Informationen versorgt wurden – namentlich die Spezialkulturen.»

Kognitiven Fähigkeiten nehmen ab

Die drei Todesfälle und sieben Unfälle entstammen unserer Sammlung aus Presseartikel und Polizeimeldungen der letzten zehn Jahre (2011-2020). Wie ich Ihnen bereits darlegte, haben wir leider keine Meldepflicht – wenn also Betroffene ihre Unfälle nicht selber melden (was leider sehr selten passiert), haben wir keinerlei Handhabe, um an die entsprechenden Zahlen zu gelangen.

Es sei richtig, dass das BUL im Rahmen der Sammlung eine höhere Anzahl an verletzten Seniorinnen und Senioren im Zusammenhang mit Arbeiten auf der Leiter feststelle. BUL-Sicherheitsfachfrau Cornelia Stelzer: «Dies ist sicher einerseits der Tatsache geschuldet, dass im Alter die Kraft und die kognitiven Fähigkeiten abnehmen und es schneller zu Kreislaufbeschwerden kommt. Andrerseits ist auch denkbar, dass sich jüngere Leute zwar auch verletzen, aber vielleicht weniger schwer (aufgrund besserer Reaktionsfähigkeiten) und diese Unfälle wiederum nirgends erscheinen. Dies möchte ich jedoch ausdrücklich als Hypothese platzieren, die verifiziert werden müsste. Landwirte sind in der Regel individuell unfallversichert – dies kann bei der Agrisano und auch bei weiteren Anbietern sein.» (uok)

Kontakt: Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft (BUL), Picardiestrasse 3, CH-5040 Schöftland, Telefon +41 62 739 50 40, E-Mail bul@bul.ch, www.bul.ch .