Lyon kennen die meisten Schweizer aus einem banalen Grund: Als ziemlich komplizierte Umfahrung der Autoroute du soleil auf dem Weg in den südlichen Urlaub. Und während der Umfahrung vermittelt die Silhouette den Eindruck eines grauen Betondesasters.
Dabei ist Lyon die von der Unesco als Weltkulturerbe geschützte Stadt und ihre Umgebung ein lohnendes Reiseziel. Lyon als weltliche Metropole der Haute Cuisine, ist direkt nach der himmlischen Tafel Odins einzuordnen, denn proportional zur Einwohnerzahl prangen nirgendwo sonst auf der Welt so viele Michelin-Sterne am kulinarischen Firmament.
Gastronomisch-historische Namen gäbe es gleich reihenweise aufzuzählen – von Fernand Point aus Vienne, dem begnadeten Koch mit dem wohl höchsten Champagnerkonsum, bis zu Mère Brazier, die lange vor Ducasse mit zwei Lokalen in Lyon sechs Sterne erkochte.
Der wichtigste Bannerträger kulinarischer Tradition und der wohl letzte Vertreter der Generation grosskalibriger Galionsfiguren französischer Haute Cuisine ist Paul Bocuse. Seine Erfolge, Orden, Kochbücher, Kochsendungen sind unzählbar geworden. Der Meister hat als Idol Generationen von Köchen geprägt und sein virulentes Lächeln unterstreicht die Souveränität des französischen Führungsanspruches der Haute Cuisine.
Natürlich juckt es einen, hier ein bisschen am Lack zu kratzen, um zu sehen, was zum Vorschein kommt. „Wer sein Glück verdoppeln will, muss es teilen,“ sagt Bocuse und bringt auch gleich den Beweis dafür, dass er seine Philosophien lebt; seine Kadermitarbeiter sind am Unternehmen mitbeteiligt. Er kocht zwar nicht mehr selber, steht aber jeden Tag in der Küche und kontrolliert und korrigiert. Einmal wöchentlich besucht er seine vier Brasserien in Lyon. Das Fundament, auf dem die Legende steht, bietet keine Angriffsfläche.
Im Hintergrund spielen seine Köche in stoischer Ruhe ihre Klaviatur und auf dem Herd, der eine wohlige Wärme verströmt, dampfen Fonds, Suppen und Saucen leise köchelnd vor sich hin.
Schon der Ansatz zur Frage nach dem Stand der Nouvelle Cuisine bringt Paul Bocuse zum Lachen. „Was heute neu ist, ist morgen veraltet,“ sagt er und legt eine Postkarte mit dem Titel Cuisine d’aujordhui auf den Tisch. Der Mann ist gerüstet. „Die Nouvelle Cuisine hat für mich schon 1901 mit Auguste Escoffier angefangen, vielleicht sogar vorher mit Anoine Carême. Nouvelle Cuisine ist ein laufender Prozess.“
Bocuse hat Argusaugen. Sie erfassen alles, sie durchdringen, prüfen, korrigieren. Jedoch immer freundlich. Gelegentlich zwinkert er mit einem Auge, eine charmante Geste, welche die Mitarbeiter herzlich berührt. Paul Bocuse ist offensichtlich ein Mann, der nicht ständig erwähnen muss, wie gross er ist. Grösse kommt von innen.
„Mais maintenant en va faire ma Soupe aux truffes noires V.G.E.“ Gegenüber Bocuse steht am Steintisch sein Küchenchef Christoph Muller, der die Mise en place bereitstellt. Bocuse blickt ihm tief in die Augen, und Muller weiss, was er vergessen hat.
Er hat sich seine Medaille „Meilleur ouvrier de France“ nicht um den Hals gelegt. Auf diesen Orden „Bester Arbeiter Frankreichs“ legt Bocuse besonderen Wert, denn erstens wird er nur alle vier Jahre vergeben und zweitens hat er als einziger Patron Frankreichs sieben Ordensträger hervorgebracht, die alle noch für ihn arbeiten – sich selber inklusive.
Nachdem die Medaille ordnungsgemäss montiert ist, nimmt Christophe Muller eine eingemachte schwarze Trüffel aus dem Perigord, hobelt zwanzig Gramm davon in eine Lyoner Suppentasse und gibt einen Esslöffel Trüffeljus darüber.
Diese im Grunde so einfache Suppe, die seit Jahrzehnten endlos kopiert wird, ist ein legendäres Stück Kochgeschichte. Den kreativen Prozess ihrer Entstehung in Worte zu fassen, sei etwas sehr schwieriges, sagt Bocuse. Muller halbiert eine zehn Millimeter dicke Tranche Gänsestopfleberterrine und legt sie unter zustimmendem Nicken Bocuse’ auf die Trüffel.
Zur Mise en place gehört eine vorbereitete Bouillon, hergestellt aus Rindsbacke, Karotte, Sellerie und einer geschwärzten Zwiebel für die Farbe. Die gekochten Zutaten Rindsbacke, Sellerie und Karotte werden gewürfelt. Von jeder Zutat gibt Muller je einen Esslöffel über die Gänsestopfleber, hält dann die Pfeffermühle darüber und dreht einmal.
„1975 lief der Verkauf von schwarzen Trüffeln sehr schlecht. Meine Freunde aus der Ardèche, die mich mit schwarzen Trüffeln belieferten, baten mich, ein Gericht zu kreieren, um den Verkauf wieder anzukurbeln. Einige Zeit zuvor hatte mir ein Bekannter eine Trüffel im Teig in einer kleinen Kokotte serviert. Ähnlich wie ein Chicken Pie, nur eben mit Trüffel.“
Bocuse holt aus, erinnert sich an seinen Grossvater in der Adéche: „Er machte eine wunderbare Gemüsesuppe, stellte die schwarzen Trüffel auf den Holztisch und forderte uns auf: Allez ràpez les Truffes dans la soupe. Diese Erinnerungen und Erlebnisse habe ich kombiniert und dasselbe mit einer Consommé gemacht. Nach und nach habe ich die Suppe mit einzelnen Zutaten abgestimmt, perfektioniert und in einer Lyoner Suppentasse vereint. Mit diesem Gericht bin ich dann in die Adrèche zu meinen Trüffellieferanten gefahren.“
Jetzt füllt Christoph Muller die Suppentasse mit der kalten, abgeschmeckten Bouillon bis knapp unter die Henkel auf. Die Suppentasse darf nicht zu voll sein, sonst kocht die Suppe im Ofen über. Als Deckel dient ein rund ausgestochenes Stück Blätterteig, etwa drei Millimeter dick und fünfzehn Zentimeter im Durchmesser, das er über die Tasse legt, am Rand ringsum andrückt und mit Eigelb bestreicht. Auf einem Backblech kommt die Tasse nun in die Mitte des auf 200 Grad vorgeheizten Ofens und bleibt dort gut 20 Minuten.
Am Dienstag, dem 25. Februar 1975 hat Monsieur le Président Valéry Giscard d’Estaing im Pariser Elysée-Palace Paul Bocuse mit dem Kreuz der Ehrenlegion ausgezeichnet – als Bannerträger der französischen Kochkunst. Zu diesem Anlass kochten die besten Küchenchefs Frankreichs ein üppiges Mittagessen.
„Wir waren 12 Freunde, und jeder kochte einen Gang. Ich eben diese Suppe. Es war sehr amüsant, denn als wir dem Präsidenten die Suppe servierten, wusste er damit nichts anzufangen und fragte, wie man diese jetzt isst, worauf ich ihm antwortete: On casse la Crôute. Seither heisst die Soupe au truffes noires V.G.E. – Valerie Giscard d’Estiaing. Seither wird die Suppe auf der ganzen Welt gekocht und ich habe die Suppe bald schon für die ganze Welt gekocht.
Wenn der Blätterteig aufgegangen und fertig gebacken ist, wird die Suppe aus dem Ofen genommen, auf einen Unterteller gestellt, der mit einer Stoffserviette belegt und so serviert wird. Andächtig zeigt Paul Bocuse, wie man sie isst. Der Gast sticht mit der Gabel in die Mitte des Teiges und bricht mit dem Löffel grosszügig um die Gabel herum die Kruste auf, wobei die Brösel in die Suppe fallen sollen, natürlich wird der Teig zur Suppe mitgegessen.
Aus dem aufgebrochenen Blätterteig strömt eine weltbewegende Dichte an Aromen und auch der Geschmack sucht seinesgleichen. Es ist einer dieser Augenblicke, die klarmachen, warum das Leben zu kurz ist, um Fusel zu trinken und Pulver anzurühren. Das Gegenteil heisst: Leben mit und von Sinnen. Und das gelingt auch ohne schwarze Trüffel und Gänseleber. Auch wenn es mit halt besser ist.