Begriffserklärung:

Durch künstlich hervorgerufene Gewebezüchtung kann Muskelfleisch wachsen. Der Fachbegriff in-vitro-Fleisch (umgangssprachlich auch Kunst- oder Laborfleisch genannt) bezieht sich auf in-vitro = im Glas, also im Reagenzglas gezüchtet. Die Technologie dafür stammt aus der Medizin,um Transplantate zu züchten. Am bekanntesten ist das auf dem Rücken einer Maus gezüchtete Ohr. Am erfolgreichsten und am weitesten fortgeschritten ist die gezüchtete Haut zur Behandlung / Verpflanzung von schweren Brandverletzungen.

In der Züchtung für Muskelfleisch zum Verzehr wird einem Tier eine Zelle entnommen und an einem dreidimensionalen Gerüst angesetzt. Es ist gegenwärtig möglich strukturiertes Hackfleisch herzustellen. Die grosse Herausforderung liegt im Umstand, dass für die Fleischkonsistenz eines Steaks die Bewegung des Muskels ausgesetzt sein muss.

Das zentrale Produktionsgefäss ist ein Bioreaktor,  in dem das Zellwachstum durch Bewegung und Temperaturschwankungen angeregt wird. Im Grunde wird eine simulierte Fitness-Center-Bewegungs-Umgebung geschaffen, damit sich alle Komponenten von Muskelmasse bilden können: Muskelzellen, Bindegewebe, Elastin, Collagen, aber auch Fettzellen als Geschmacksträger.

Die wichtigsten Vorteile liegen auf der Hand: In einem Bioreaktor lassen sich Krankheitserreger und Giftstoffe fernhalten. Emissionen können wesentlich reduziert werden. Der Verbrauch von Landresourcen fällt weg. Tierleid wird keines verursacht. Der Schlachtprozess, die Zerlegung der Tiere, das Entfernen von Innereien und Fellen sowie das Ausbeinen entfallen.

 

Rückblick:

Es ist noch nicht lange her, als Fleisch und Geflügel teure und für die Mehrheit der Gesellschaft nahezu unerschwingliche Lebensmittel waren. Das hatte einfachste Gründe, zum Beispiel: Die Gesellschaft konnte es sich bis zum 2. Weltkrieg schlicht und einfach nicht leisten, 15 Kilogramm nährwertreiches Getreide für die Produktion von einem Kilogramm Fleisch zu investieren. So hatte auch die stete Suche nach Ersatzprodukten einen hohen Stellenwert. Die Gründe waren mannigfaltig. Im Lebensmittelmuseum, dem Alimentarium in Vevey ist noch heute eine gefälschte Landjäger (paarweise geräucherte und luftgetrocknete Rohwurst) der vorletzten Jahrhundertwende ausgestellt – der Grund für die Fälschung war offensichtlich: Den Konsumenten täuschen, um in betrügerischer Absicht mit billigen Zutaten ein teures Produkt herzustellen und somit die Gewinnmarge zu steigern. Ein weiterer, jüngerer Grund ist aber auch die Erschliessung von Proteinquellen, die dem Fleischgeschmack nahekommen. Die Gründe müssen nicht weiter aufgezählt werden, um zu erkennen, dass Fleisch ein Urnahrungsmittel und das Verlangen danach absolut zentral ist. Mit der Industrialisierung der Landwirtschaft und der Nahrungsmittelverarbeitung, aber auch mit der Globalisierung und den immer schneller zu bewältigenden Handelswegen (Schiffs- und Luftfracht) unterlag das Produkt Fleisch einem immer stärkeren Preiszerfall. 1961 wurden weltweit 71.32 Mio Tonnen Fleisch produziert, 1990 179.72 Mio Tonnen und 2015 320,7 Mio Tonnen (Quelle: Statista.com). Das ist nicht mehr mit dem Bevölkerungswachstum zu erklären – der Fleischkonsum stieg durchschnittlich im weltweiten Pro-Kopf-Verbrauch von 23 Kilogramm 1961 auf 42 Kilogramm 2015 pro Jahr. Dazu kommt, dass immer mehr Menschen Zugang zu immer billigerem Fleisch haben. Ein weiterer Faktor ist, dass noch vor 20 Jahren über 90 Prozent eines Tieres verwertet wurden, heute sind es unter 60 Prozent und ein Teil landet in der Kadaververbrennung. Dann noch ein dramatisches Beispiel des Wertzerfalls: In Deutschland verdient ein Schweinezüchter an einem Schwein noch 6 Euro (Quelle: „Tiere können Sprechen“ / David Precht). Die Konsequenzen sind dramatisch. Umweltbelastung, Tierhaltungen von desolat bis zur absoluten Tierquälerei – immer mehr Tiere müssen auf immer weniger Raum „produziert“ werden. Immer stärker aufkommende multiresistente Keime durch unsachgemässen Einsatz von Medikamenten in der Tierzucht – alleine in der Schweiz werden pro Jahr 50 Tonnen Antibiotika verabreicht – Grosse Teile davon sogar vorbeugend ohne Diagnose. Um 1 Kilogramm Fleisch zu produzieren, werden 7 bis 15 Kilogramm Getreide oder Soja benötigt. Neben dem Platz für mehr Tiere in der Zucht wird also auch ein Vielfaches an Fläche für die Futtermittelproduktion benötigt (Stand heute: 34 Millionen Quadratkilometer / 26 Prozent der Erd-Landfläche – Quelle: In Vitro Mead Consortium). In Anbetracht dieser Zahlen ist die Prognose zu betrachten. Bis 2050 wird sich die Fleischproduktion mehr als verdoppeln.

Eigentlich ist es allen klar, dass es so nicht mehr weitergehen kann, schon alleine deshalb, weil schlicht und einfach irgendwann die Ressourcen nicht mehr genügen.

Die Frage ist also, wie sich die Fleischproduktion entwickeln wird -  wer wird als Erstes das Gewicht in die Waagschale des Marktes werfen und welcher Weg wird sich durchsetzen: Konsumenten, Industrie, Züchter oder der Gesetzgeber.

 

Gegenwart

Wo auch immer heutzutage künstlich produziertes Fleisch (In-Vitra-Fleisch) zur Diskussion steht, die Äusserungen sind mehrheitlich negativ. Fleisch, das in einem Bioreaktor wächst, ist für viele kaum fassbar. Ironischer- oder paradoxerweise gilt dasselbe für das Töten der Tiere und den einhergehenden Schlacht- und Verarbeitungsprozess – und trotzdem isst die Mehrheit Fleisch.

Dass sich die vordergründigen Abneigungen schnell auflösen werden, zeigen die Vorläufer der Fleischersatzprodukte auf der Basis von Soja- und/oder Getreide. Daraus werden immer mehr die verschiedensten Formen hergestellt, angeboten, gekauft und verzehrt: panierte und unpanierte Schnitzel, Rohesswürste, Brühwürste, Bratwürste etc. Dieser Markt wächst stark. Diese Produkte unterliegen ebenfalls einem starken, industrialisierten Prozess, bis sich aus Soja eine „Wurstmasse“ herstellen lässt. An dieser Stelle sei an eine Aussage der bekannten Köchin und Vegetarierin Sarah Wiener erinnert: Man solle einmal Sojabohnen kochen, auspressen und versuchen, die so hergestellte Sojamilch zu trinken – sie sei ungeniessbar. Sojamilch in den Regalen der Detailhändler sei genauso ein Industrieprodukt wie beispielsweise Coca-Cola – vegan sei also keine Lösung.

Die nächste Stufe ist in einem Produkt zu finden, das dem synthetisch hergestellten Fleisch im Grunde recht nahekommt und unter dem Handelsnamen Quorn bekannt ist. Dabei handelt es sich um ein in einem Bioreaktor industriell hergestelltes Nahrungsprodukt auf der Basis von gesteuertem Zellwachstum (eine Pilzkultur mit Traubenzucker gefüttert) eines Schimmelpilzes, dessen Myzel fermentiert wird. Dieses vergorene Potpourri besteht aus bis zu 15 Prozent Protein, es ist cholesterinarm, muss jedoch künstlich mit Vitaminen und Mineralien angereichert werden. Wer diesen Brei aus dem Bioreaktor einmal roh gesehen hat, ist auch nicht mehr wirklich angetan davon. Und ganz so vegetarisch wie gesagt wird, ist Quorn, am Rande bemerkt, auch nicht. Für die weitere Verarbeitung zur Fleischersatzproduktion braucht es nämlich noch Bindemittel und das stammt in aller Regel aus dem Eiklar/Eiweiss von Hühnereiern.

Die nächste Stufe, also das In-Vitro-Fleisch, kann heute bereits hergestellt werden. Den ersten Burger aus synthetisch hergestelltem Fleisch wurde am 5. August 2013 von einem holländischen Forscherteam (unter der Leitung von Professor Mark Post von der Universität Maastricht) in London vorgestellt, zubereitet und getestet. Die Aufwände für die Herstellung waren allerdings noch gewaltig und der Preis eines Kilogramms dieses künstlich hergestellten Fleisches wurde mit zirka 300 Tausend Euro veranschlagt.

 

Ausblick

Gegenwärtig beläuft sich der Preis pro Kilogramm auf rund 70 bis 100 Euro, es ist also nur noch eine Formfrage, bis ein marktfähiges Produkt angeboten wird. Es ist augenfällig, dass dies in den nächsten zwei bis drei Jahren geschehen wird. Die Frage ist lediglich, wann der erste Detailhändler das erste In-Vitro-Fleischprodukt im Sortiment aufnimmt und wie sich die Dynamik entwickelt. Es dürften zuerst dem Rindshackfleisch ähnliche Produkte sein. Folgen werden sicher Schweine- und Hühnerfleisch. Denkbar sind auch Fischfleisch-ähnliche Produkte. Je mehr Erfahrung die Produzenten haben und je nachdem, wie schnell die Entwicklungen durch die Dynamik des Marktes gesteuert sind und vorangetrieben werden, dürfte das erste synthetisch hergestellte „richtige“ Steak zwischen 2020 und 2025 auf den Markt kommen. Das erste synthetische Hackfleisch wird bereits in den nächsten drei Jahren – also bis 2020 - handelsreif sein.

 

Die grössten Fleischproduzenten 2015 in Tausend Tonnen

China                   70’464

USA                     42’020

Brasilien              18’898

Deutschland        7’412

Indien                  6’508

Russland              5’755

Frankreich           5’664

Spanien               5’617

Mexiko                 5’548

Argentinien         4’439