René Riss hätte eigentlich als Koch Karriere machen sollen und wollen. An der Voraussetzung wäre es nicht gescheitert. Er machte seine Lehre im damals hochangesehenen Flughafenrestaurant Zürich und er schloss die Lehre als einer der besten seines Jahrgangs ab. Und eigentlich – wenn ich meinen Erinnerungen an die damaligen Schilderungen Glauben schenke – war er bereits auf dem Weg in die Saison nach St. Moritz, als sein Vater bei einem Autounfall schwer verletzt wurde. Er musste sich entscheiden und übernahm zuerst vorübergehend und dann für immer das Hotel Post von seinen Eltern. Jetzt, am 28.Juni 2020 geht er nach über 40 Jahren wirten in den neuen Lebensabschnitt – hoffentlich in den Unruhe- und nicht Ruhestand.
Mariastein. Ein wunderbarer Ort. Alleine schon vom Prinzip des Ursprungs her, dem eine Legende zu Grunde liegt. Ein Hirtenjunge wagte sich, während seine Mutter ein Nickerchen in einer Höhle machte, zu nah an die Felsen und stürzte. Als sie ihren Jungen suchte, fand die Mutter ihn gesund und munter im Tal. Er erzählte, dass er von einer Frau aufgefangen wurde. Der Vater glaubte, es sei die Erscheinung der Muttergottes gewesen und liess zum Dank eine Kapelle in eben jener Höhle errichten. Kleine Geschichte, grosse Bedeutung: «Du wirst nicht fallen gelassen, sondern aufgefangen.»
Seither pilgern die Menschen in die Grotte der Muttergottes, deren goldene Krone (während meiner Kindheit) einige Male geklaut wurde (nein, ich war es nicht) und deshalb heute eine Imitation ist.
Und neben dem Benediktinerkloster über der Grotte liegt das Hotel Post, das sich seit 95 Jahren im Familienbesitz der Familie Riss befindet. Kein Scherz, am Freitag, dem 1. April 1983 fing ich meine Lehre an. Wir standen in der Küche und er fragte mich, ob ich mich wie aufgetragen für den Donnerstag in der Gewerbeschule Basel eingeschrieben hätte. … öööhmmm … nein, am Donnerstag hätte es keinen Platz mehr gehabt, als ich an der Reihe war, und ich hätte jetzt den Mittwoch erhalten. Diesbezüglich wissenswert: Jeden 1. Mittwoch finden die Monatswallfahrten statt. Dann ist also jeweils «sau viel Büez» angesagt und mein Lehrmeister war stocksauer. Als Dank durfte ich hinten im Garagenhäuschen, wo die «Härdöpfelschälmaschine» stand, zwei Säcke «Härdöpfel» rüsten. (Ja liebe Lernende von heute, wir waren damals noch kopflose Nieten, Stifte und Lehrlinge und haben Kartoffeln noch von Hand gerüstet, denn die Maschine verursachte zu viel Rüstverlust.)
Ich war damals ein verträumter Hans-Guck-in-die-Luft und wie viele auf der Suche nach meiner Identität. Und jetzt kommt’s: Wir als Lehrlinge sind nie fallen gelassen worden. Ich hatte den besten Lehrplatz dieser Welt, auch wenn es bisweilen hart war. Auch die Fleischgabel hatte ich schon in meinem ehrenwerten Hintern. Als Lehrling sollte man halt nicht «Duubel» murmeln, wenn dich der Lehrmeister hören könnte.
Wir waren damals in der Küche: Der Lehrmeister, drei Lehrlinge sowie ein Holzherd, der jeden Morgen angefeuert werden musste. Aus heutiger Sicht bedauerlicherweise nicht mehr denkbar. Aber … wir mussten nicht arbeiten, wir durften. Keiner hat nach Überzeit gefragt. Und ich bin René Riss heute noch unendlich dankbar dafür, dass ich das Wichtigste in meinen Leben gelernt habe: arbeiten und kochen. Von Grund auf. Wir durften alles. Und manchmal haben wir auch irgendwelches Zeugs erfunden, nämlich die erste vegane Schlagcrème auf der Basis von Wasser und Margarine. Nicht etwa aus ethischen, sondern aus Kostengründen. 1 Liter Schlagrahm kostete damals noch 12 Franken. Eines muss gesagt sein. Es gibt keinen grösseren Sparfuchs als René Riss. Der wäscht heute noch, sofern möglich, Einweggeschirr, um es ein zweites und drittes Mal zu benutzen. Food Waste gab es nicht, dort wurde alles verwertet. Und noch der hinterste Schinkenanschnitt landete in den Sulzpasteten und Leberterrinen, die wir noch selber herstellten. Er hat mir einmal gesagt: «Ein guter Koch ist nicht einfach der, der aus dem Besten das Beste zubereiten kann, sondern der, der alles verwertet und aus allem das Beste macht.»
Und dann gab es auch die saulustigen Momente. Zum Beispiel, wenn wieder einer von uns Stiften in voller Kochmontur in die von Menschen dichtgepferchte Kirche rennen musste, weil der Sohnemann des Chefs auf seinem Tret-Go-Cart während der Sonntagsmesse im Mittelgang in voller Fahrt auf den Altar und den predigenden Abt zufuhr. Jenen Sohn steckten wir während dem Sonntagservice schon auch mal in den Kippkessel und drückten ihm eine Holzkelle in die Hand, von wo aus er den Service dirigierte. Oder, wenn wir einmal im Monat für das Kuchen- und Tortenbüffet die Biskuits backten und tiefkühlten: Mein Mitlehrling Thomas und ich liessen uns hin und wieder das Vergnügen nicht nehmen, wenn der Biskuitduft aus dem Ofen bereits durchs Haus strömte, ein Stücklein Brot auf der heissen Herdplatte verreiben und verkohlen zu lassen. Der Lehrmeister hatte so eine feine Nase, es ging keine zwei Minuten, da kam er aus dem Büro schreiend die Holztreppe heruntergepoltert: «Gopferdelli, d’Biscuit verbrennä». Dabei standen bereits alle Biskuits perfekt gebacken auf den Gittern zum Auskühlen und daneben zwei Lehrlinge, die bis über beide Ohren grinsten.
Und nein, oft sind wir in der Zimmerstunde erst gar nicht nach Hause gegangen. Ausbeinen war in der Lehre damals noch ein Thema und wir hatten dauernd auch ganze Nierstücke oder manchmal schon auch ein halbes Tier im Fleischkühlraum hängen. Für den Holzherd musste hin und wieder Kohle geschaufelt und Holz gespalten werden.
Das wollte sich der Stift nicht nehmen lassen – unwissend und unbewusst lebten wir Jungs damals die Haltung von Immanuel Kant «ich kann weil ich will was ich muss». Bewusst oder nicht – das kann nur er selber beurteilen – bot uns René Riss als Lehrmeister die Möglichkeit zur wahrhaften, intrinsischen Motivation, die nach Kant ausreicht, um jede Situation zu meistern.
Das war bisweilen knüppelharte Arbeit. Brachial waren und sind bis heute die Sonn- und Feiertage. Das muss man sich vorstellen. Fünf vor zwölf sind Gaststube und Restaurant leer und dann läuten die Glocken das Ende der Messe und eine Klosterkirche voller hungriger Menschen entleert sich auf einen Glockenschlag. «Do bisch denn im Seich». Apropos. Damit wir an der praktischen Abschlussprüfung eben «nicht im Seich» waren, hat er im Winter am Wirtesonntag Freunde eingeladen, für die wir dann ein Prüfungsmenu übungshalber zubereiten konnten.
Lieber René, ich danke Dir von Herzen und wünsche Dir und Deiner Frau Mira viel Freude im neuen Lebensabschnitt. Gebt Gas, was das Zeug hält.