Hier können Deutschschweizer nach Kardonen Fragen:

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www.jaeger-ag.ch

www.marinello.ch
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Im 16. und 17. Jahrhundert wurden die Hugenotten, also französische Protestanten, wegen ihres Glaubens verfolgt. Besonders nach der Aufhebung des Edikts von Nantes 1685 durch Ludwig XIV. verloren sie ihre religiösen Toleranzrechte und waren gezwungen, entweder zum Katholizismus überzutreten oder das Land zu verlassen. Viele flohen vor Gewalt, Enteignung und Zwangsbekehrung. Ein Teil suchte Schutz in der Schweiz, wo die reformierten Städte wie Genf, Lausanne, Neuenburg und Zürich ihnen Zuflucht boten. Dort brachten sie ihre Handwerkskunst, ihr landwirtschaftliches Wissen und neue Kulturpflanzen mit, darunter auch die Kardone, die in Genf zur kulinarischen Tradition wurde.
Plainpalais, heute ein Genfer Stadtviertel, war tatsächlich bis ins 19. Jahrhundert eine landwirtschaftlich geprägte «flache Ebene», auf der nicht nur Kardonen angebaut, sondern diese auch gezielt durch Weiterzüchtung verfeinert wurden. Entstanden ist die Sorte Cardon argenté épineux de Plainpalais. Sie gilt als die feinste Kardone überhaupt und ist durch die AOP (Appellation d’Origine Protégée) geschützt. Zu Deutsch: silbern stachelige Kardone von Plainpalais. Im Gegensatz zu vielen anderen haben die Genfer Kardonen nicht nur ihre Stacheln behalten, sondern sie sind unabdingbar. Nur die mit den Stacheln sind die echten.
Der Patron des Gemüseanbau- und Verarbeitungsbetriebes PAV SA & Bio Saveurs, Georges Vuillod, sagt lachend: «Obwohl es sich um dieselbe Pflanzenfamilie handelt, schmecken die stachellosen Kardonen eher wie Krautstiel.»
Die PAV SA & Bio Saveurs ist ein Familienbetrieb, der bereits in vierter Generation Kardonen kultiviert. Die Kardone ist ausserordentlich arbeitsintensiv, und es stellt sich ja schon die Frage, wieso das überhaupt noch gemacht wird. Es sind denn auch nur noch drei Produzenten übrig, die Kardonen anbauen.
Vuillod hat eine klare Antwort: «Die Kardone ist nicht einfach ein Gemüse, sondern ein kostbares Genfer Kulturgut. Ein Zeichen für Beharrlichkeit und Handwerk und der Beweis, dass Tradition auch mal stachelig sein darf.»
Geht man mit Frédéric Feiereisen von PAV SA & Bio Saveurs aufs Feld, versteht man den Aufwand. Die Pflanze, erklärt er, wird im Mai ausgepflanzt, dann wächst sie bis August nicht allzu stark, macht allerdings Wurzeln, die bis drei Meter tief reichen. In dieser Zeit wird auch zurückhaltend Wasser gegeben, damit die Wurzeln in der Tiefe danach suchen müssen. Im August müsse dann richtig Wasser aufs Feld, entweder durch Regen oder durch Bewässerung. Dann explodieren die Pflanzen förmlich. Sie wachsen innerhalb von zwei bis drei Wochen auffällig schnell zu 1,50 Meter grossen, stacheligen, silbrig-grünen Monstern, denen man nicht zu nahekommen möchte. Ab Oktober kommt dann allerdings niemand mehr darum herum, die Nähe zu meiden. Mit so etwas wie einer Art überdimensionierter Schere, die anstatt einer Schneide eine grosse Rundung hat, werden die Pflanzen gepackt, gebündelt und zusammengeschnürt. Anschliessend wird ein schwarzes Plastik darübergestülpt, so dass oben lediglich noch ein Büschel Blätter herausschaut. Durch das fehlende Licht bleichen die Pflanzenstängel aus. Die Stängel werden weisslich, Bitterstoffe werden abgebaut, der Geschmack balanciert sich aus. Früher wurden die Pflanzen zum Bleichen mit einem Stück Wurzelballen ausgemacht und in dunklen Kellern gelagert. Im Grunde wie weisser Chicorée, nur in monströser Form, erklärt Fréderic Feiereisen. Die Pflanze alleine wiegt um die 15 Kilogramm plus den Wurzelballen. Das alles im Keller zu bleichen wäre ein viel zu grosser Aufwand. Das geht vielleicht mit zehn Pflanzen für den Eigengebrauch, aber nicht für tausende Pflanzen.
Man erahnt schnell, dass das keine billige Angelegenheit ist. Mit rund 25 Franken pro Kilogramm ist die Kardone kein Alltagsgemüse. Das verdeutlicht einerseits die Ausbeute, andererseits den Arbeitsaufwand. Wird die bis 115 Kilogramm schwere Pflanze umgemacht und alles nicht Brauchbare weggeschnitten, bleibt ein verwendbares Herz von 1 bis 2 Kilogramm. Dann fängt die Handarbeit und die Schwierigkeiten an. Wie bei der Rhabarber wird der Kardone die Haut bzw. die Rippen abgezogen.
Die Kardone enthält viele Bitterstoffe und Polyphenole wie z. B. Cynarin, Chlorogensäure etc. Diese kommen bei Schnittverletzung mit den Enzymen in Kontakt, reagieren mit Luftsauerstoff, Schnittstellen und geschälte Stängel laufen in der Folge braun an. Dem kann mit Ascorbinsäure oder Zitronensaft entgegengewirkt werden. Georges Vuillod sagt, dass dabei aber immer ein leichter Nebengeschmack hängen bleibe. Da bei PAV SA & Bio Saveurs die Kardonen auch vorverarbeitet werden, sollen keine störenden Aromen zum Tragen kommen, die dem Koch in die Quere kommen könnten. Zum Einsatz kommt deshalb lediglich eiskaltes Wasser, knapp über null Grad. Durch die Kälte werden die Enzyme beinahe stillgelegt, die Zellmembranen werden gestrafft, sodass weniger Zellsaft austritt. Im Wasserbad wird der Kontakt mit Luftsauerstoff weitgehend abgeschnitten. Die geschnittenen Kardonen werden durch ein Wasserrüttelbad geführt und bleiben anschliessend noch im Wasser liegen. Der Grund dafür liegt in den allenfalls verbliebenen und «mitgereisten» Stacheln, die absinken müssen und keinesfalls im Gemüse bleiben dürfen. Anschliessend werden die Kardonen entweder nature oder traditionell in Milch sous-vide vorgegart. Die Milch wirkt der Oxidation ebenfalls vor und entspricht zudem der traditionellen Zubereitungsart. Der Milch-Kardonensaft kann zu einer Velouté bzw. einer Béchamel gekocht werden, die als Basis für den Gratin dient.
Bis hierhin sich sich alle einig, doch über eines lässt sich bei den Genfern vortrefflich streiten: Ob Käse über oder in den Gratin kommt oder nicht. Von vielen in Genf wird der Kardonengratin nämlich ohne Käse zubereitet, nur mit einer weissen Sauce. Das gilt als die puristische Form, die den Geschmack des Gemüses in den Vordergrund stellt.
Jedenfalls kommt die Kardone so in vier Formen in den Handel:
- Frisch und roh, ganz und ungeschält
- Frisch und roh, geschält und in Stücke geschnitten
- Konserviert, sterilisiert für lange Haltbarkeit im Glas
- Bereits gekocht, nature oder in Milch
So bleibt das Gemüse zugänglich – auch für jüngere Generationen, die sich kaum mehr mit der stacheligen Pflanze im Rohzustand abmühen würden. So oder so: Wer in Genf in einen Supermarkt geht, findet gerade um die Festtage immer Kardonen.
Für Gastronomen in der Deutschschweiz, die sich mit Kardonen anfreunden, jedoch mit den blutigen Konsequenzen der Stacheln keine Bekanntschaft machen möchten, gibt es die Möglichkeit, diese geschnitten, nature oder in Milch unter Vakuum sterilisiert im 1-Kilogramm-Beutel beim Gemüsehändler zu bestellen.
Alle anderen, welche die rohen, unverarbeiteten Kardonenherzen bestellen möchten, auch: Nur die Harten kommen in den Garten.
