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«Früher war mehr Lametta» – dieser Satz aus Loriots Weihnachtsklassiker scheint heute auch für die Gastronomie zu gelten. Wo einst der Kellner mit weissem Hemd und gestärkter Serviette das Menü servierte, steht heute ein Barista mit Tattoos und fermentiertem Kombucha.

Die Gastronomie in Deutschland und der Schweiz erlebt einen Paradigmenwechsel. Die klassische Gastronomie – jene mit Tischdecken, Bedienung und Menüfolge – geraten ins Abseits und verliert an Boden. Ihre Plätze werden von hippen Konzepten eingenommen, die Flexibilität, Erlebnis und Lifestyle versprechen. Und nein, die Entwicklung ist nicht neu, neu ist die exponentielle Dynamik.

Die neue Esskultur: spontan, pflanzenbasiert, inszeniert

Laut einer aktuellen Analyse von Feinschmecker und CHEFS CULINAR meiden vor allem junge, urbane Gäste, die klassischen Formate. Stattdessen zieht es sie in Streetfood-Hallen, Pop-up-Restaurants oder hybride Orte wie das Mural in München, das Fine Dining mit Brunch und Weinbar kombiniert.

«Gastronomie ist nie fertig gedacht», sagt Wolfgang Hingerl, Mitgründer des Mural im Interview vom Feinschmecker. Sein Credo: mehr Spontaneität, weniger starre Abläufe. Das zeigt sich auch in der Menügestaltung – kleinere Karten, wechselnde Gerichte, keine Reservierungspflicht.

Wirtschaftlicher Druck als Katalysator

Doch der Wandel ist nicht nur kulturell, sondern auch ökonomisch bedingt. Die DEHOGA-Umfrage 2025 ( Halbjahresbilanz Gastgewerbe 2025: Sechtes Verlustjahr in Folge droht | Ergebnisse der aktuellen DEHOGA-Umfrage: Gastgewerbe unter Druck - Hohe Kosten und die Mehrwertsteuererhöhung belasten vor allem die Gastronomie) zeigt: 78,3 % der Gastronom:innen sehen die steigenden Personalkosten als grösste Herausforderung. Hinzu kommen Inflation, Energiepreise und die Rückkehr zur regulären Mehrwertsteuer.

Viele klassische Restaurants können diesen Druck nicht mehr stemmen. Ihnen fehlen die Mittel für Innovation, das Personal für Service und die Gäste, die bereit sind, für das Erlebnis zu zahlen. Die Folge: Schliessungen, Umstrukturierungen oder der Wechsel zu einfacheren Konzepten.

Gerade hier zeigt sich, wie gnadenlos politische Fehlentscheidungen kleine und mittelständische Betriebe – insbesondere aus handwerklichen Berufsständen – zunehmend abwürgt. Ironischerweise werden jene politischen Akteure, die solche Entwicklungen zu verantworten haben, aus Mitteln bezahlt, die der Staat über Steuern genau diesen Unternehmen und ihren Mitarbeitenden entzieht. Man bezahlt also den eigenen Untergang.

Wer bezahlt heute noch klassische Gastronomie?

Weiter nimmt die Preissensibilität spürbar zu – besonders in Deutschland, wo Konsumenten deutlich stärker auf Preis-Leistungs-Verhältnisse achten als in der Schweiz, wo Genuss und Qualität traditionell höher gewichtet werden. Doch selbst hier wird was früher als selbstverständlicher Luxus galt, heute mehr und mehr kritisch hinterfragt: Ist ein Drei-Gänge-Menü für 65 Euro oder Franken noch zeitgemäss?

Der Preisindex für gastronomische Leistungen ist seit 2022 deutlich gestiegen. In Deutschland treibt die Rückkehr zur 19 % Mehrwertsteuer die Preise zusätzlich nach oben. In der Schweiz leiden klassische Betriebe besonders unter gestiegenen Personal-, Energie- und Mietkosten.

Doch es geht nicht nur um den Preis – sondern um die gefühlte Preis-Leistung. Ein stylisches Bowl-Gericht für 20 Franken wird eher akzeptiert als ein traditionelles Hauptgericht für 38 Franken. Atmosphäre, Storytelling und Instagram-Faktor zählen mehr als das Produkt selbst.

Die klassische Gastronomie wird zur Nische: für ältere Gäste, Businesskunden oder Menschen, die bewusst nach einem besonderen Erlebnis suchen. Für den Alltag ist sie oft zu teuer, zu formell und zu wenig flexibel.

Die Renaissance des Bistros – oder das Ende?

Interessanterweise erleben einfache Formate wie Bistros oder Brunch-Lokale ein Comeback. Sie bieten niedrigere Preise, kürzere Verweildauer und weniger Personalaufwand. Doch auch hier gilt: Ohne Storytelling, Nachhaltigkeit und digitale Präsenz geht nichts mehr.

In Zürich etwa eröffnen immer mehr Lokale mit Fokus auf Plants for Future – pflanzenbasierte Küche, die nicht nur gesund, sondern auch klimafreundlich ist. Das klassische Zürcher Geschnetzelte? Gibt’s jetzt auch vegan – mit Pilzen und Haferrahm.

Was bleibt?

Die klassische Gastronomie stirbt nicht aus – aber sie wird zur bewussten Alternative, zur Nische. Vielleicht sogar zur Luxus- oder Retro-Erfahrung. Wer heute ein weiss gedecktes Tischchen mit Kerzenlicht und Menüfolge sucht, tut dies bewusst. Als Kontrast zum schnellen Alltag. Als Erinnerung an eine Zeit, in der Essen noch ein Ritual war.

Doch die Mehrheit der Gäste will heute mehr – oder besser anders: mehr Erlebnis, mehr Flexibilität, mehr Nachhaltigkeit. Und die Gastronomie liefert – mit Konzepten, die so bunt sind wie die Gesellschaft selbst.

Rückgang klassischer Kochkarrieren

Laut einer aktuellen Umfrage von GastroSuisse kann über die Hälfte der Schweizer Betriebe nicht genügend Küchenpersonal rekrutieren. Der Beruf des Kochs leidet unter einem Imageproblem: lange Arbeitszeiten, hoher Stress, geringe Bezahlung und wenig gesellschaftliche Anerkennung. Viele junge Talente steigen nach der Ausbildung aus – oder wechseln in verwandte Branchen wie Lebensmitteltechnologie, Catering oder Food-Start-ups.

Ein ehemaliger Koch, Andreas Alder, bringt es auf den Punkt: «Ich kenne fast keinen einzigen ausgebildeten Koch, der noch auf seinem Beruf arbeitet.»

Neue Gastroformate – weniger Kochkunst, mehr Konzept

Moderne Gastronomiekonzepte setzen oft auf:

  • Standardisierte Abläufe (z. B. Ghost Kitchens, Systemgastronomie)

  • Convenience-Produkte und vorproduzierte Komponenten

  • Showküche statt Handwerk – die Inszenierung zählt mehr als die Technik

Das bedeutet: Die Nachfrage nach klassisch ausgebildeten Köchen sinkt dort, wo das Kochen selbst nicht mehr im Zentrum steht.

Trotzdem: Qualität braucht Können

Gleichzeitig erleben wir eine Renaissance der regionalen, nachhaltigen und pflanzenbasierten Küche. Und hier sind ausgebildete Köche gefragt – nicht nur als Handwerker, sondern als kreative Köpfe, die mit fermentierten Produkten, alten Gemüsesorten und neuen Texturen umgehen können.

In Fine-Dining, Boutique-Hotels, innovativen Bistros oder kulinarischen Start-ups sind gut ausgebildete Köche sogar wichtiger denn je

Wer braucht noch ausgebildete Köche?

Die Antwort ist differenziert:

  • Systemgastronomie und Convenience-Konzepte kommen oft ohne sie aus.

  • Erlebnisgastronomie, Fine Dining und nachhaltige Küche sind auf sie angewiesen.

  • Die klassische Ausbildung muss sich wandeln – dieser Wandel läuft so ziemlich falsch.

In der Schweiz etwa wird die duale Berufsausbildung zunehmend digitalisiert: Lernplattformen, Online-Module, virtuelle Prüfungen. Das klingt modern – doch Kochkunst ist kein PDF-Beruf. Sie lebt von Geruch, Geschmack, Haptik, Timing – und von der sozialen Interaktion in der Küche. Wer nie gelernt hat, wie sich ein perfekt gegarter Fisch anfühlt oder wie ein Team unter Druck harmoniert, kann zwar PDF-Lückentexte mit KI-Hilfe ausfüllen, aber keinen Kochprozess führen.

Eine kleine, analog ausgebildete Elite wäre nicht nostalgisch, sondern visionär. Denn in einer Welt voller Convenience und Algorithmus-Küchen braucht es Menschen, die das echte Handwerk von gesternbeherrschen, um die Entwicklungen von Morgen steuern zu können.

Quellen & Artikel
Gastro-Trends 2024: Was Restaurants aus der Krise lernen – Feinschmecker
Gastrotrends 2025 – CHEFS CULINA
​Gastronomie-Trends 2024 – Gastro-Marktplatz