Es gibt erstaunlicherweise kaum öffentliche Diskurse über den psychologischen Vertrag in und um die Gastronomie– dies obschon insbesondere Beziehungen zwischen Patrons und Küchenchefs  in dieser Form der Theorie der sozialen und organisatorischen Identität eingeordnet werden können.

Einer der berühmtesten und erfolgreichsten psychologischen Verträge unsere Branche dürfte der zwischen Ceasar Ritz und August Escoffier gewesen sein.

Die beiden hatten eine enge berufliche Beziehung, die auf gegenseitigem Vertrauen und einer gemeinsamen Vision für die Gastronomie und Hotellerie basierte. Obwohl der Begriff des «psychologischen Vertrags» zu ihrer Zeit noch nicht geprägt war, kann man sagen, dass ihre Zusammenarbeit Merkmale eines solchen Vertrags aufwies. Es war eine Stillschweigende Übereinkunft über Rollen und Erwartungen, die über das hinausging, was schriftlich festgehalten wurde. Der Psychologische Vertrag zwischen Ritz und Escoffier zog grundlegende Veränderungen der Koch- und Esskultur sowie der Hotellerie nach sich, die bis heute Gültigkeit haben.

Diese soziale und organisatorische Identität, welche auf nicht formalisierten, aber tief verwurzelten Erwartungen und Verpflichtungen, basiert kann aber auch komplett schieflaufen, dies selbst wenn sich der Erfolg einstellt. 

Mit Richard D’Oyly Carte, dem Besitzer des Savoy Theatres in London und dem Erbauer des Hotel Savoy, gingen Ritz und Escoffier ebenfalls einen solchen psychologischen Vertrag ein. Ritz übernahm das Management und Escoffier die Leitung der Küche, was 1889 im damals größten und modernsten Hotel der Welt einer Herkulesaufgabe gleichkam. Das Hotel war wirtschaftlich und kulinarisch ein voller Erfolg, doch der psychologische Vertrag wurde zerrissen, spätestens als Ritz eigene Hotels ins Auge fasste, was D’Oyly Carte missfiel. Ein konstruierter Weindiebstahl wurde genutzt, um Ritz und Escoffier zu diskreditieren. Sie verließen das Hotel mit erhobenem Haupt und der gesamten Küchenbrigade. Der psychologische Vertrag zwischen Escoffier und Ritz überstand jedoch das gesamte Desaster.

 

Der psychologische Vertrag

Der psychologische Vertrag ist ein Konzept, das die unausgesprochenen, oft impliziten Erwartungen zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer beschreibt. Es geht über den formalen Arbeitsvertrag hinaus und umfasst die gegenseitigen übereinkunft zu Rechten, Pflichten und Leistungen.

Ein psychologischer Vertrag könnte beispielsweise die Erwartung eines Mitarbeiters an eine sichere Arbeitsumgebung oder Karriereentwicklungsmöglichkeiten beinhalten, während der Arbeitgeber erwartet, dass der Mitarbeiter sich engagiert und flexibel zeigt. Solch ein Vertrag ist rechtlich nicht bindend, doch er kann (Arbeits)Moral und Engagement entscheidend beeinflussen – positiv wie negativ. 

Er kann zu stärkerer Bindung, höherer Motivation und besseren Leistungen führen. Genauso kann er bei einen Bruch wie z.B. Nichterfüllen von Versprechen zur Beförderung oder Weiterbildung zu Unzufriedenheit, Misstrauen oder sogar Kündigung führen.

Erfolgt der Bruch eines psychologisches Vertrages auf ungebührliche Weise – und das ist meistens der Fall, sind vorderhand die persönliche Verletzungen meist schwerwiegend. Es geht dabei um persönliche Niederlagen, Gesichtsverlust, seelische Verletzung. In einer Organisationskultur, einer Branche oder sogar im ganzen Arbeitsmarkt in dem Gruppenansehen hoch bewertet sind, verliert eine solche Person Ansehen und Respekt, tatsächlich oder vermeintlich. So oder so, das Resultat reicht von Depressionen bis zu impulsiven Handlungen.

 

Die Mitarbeiterloyalität

Loyalität ist ein vielschichtiges Konzept, das durch verschiedene Faktoren beeinflusst wird. Die Theorie der sozialen und organisatorischen Identität legt nahe, dass die Identifikation mit einer Gruppe oder Organisation das Verhalten und die Loyalität eines Mitarbeiters prägt. Die Theorie des sozialen Austauschs sieht Loyalität als Teil eines unausgesprochenen Vertrags, der auf Gegenseitigkeit beruht. Die Theorie des psychologischen Vertrags wiederum fokussiert auf die Erwartungen und Überzeugungen eines Arbeitnehmers bezüglich der gegenseitigen Verpflichtungen in der Beziehung zum Arbeitgeber. Diese Theorien helfen, die Entstehung von Loyalität zu verstehen und die Dynamik von Verrat oder Konflikten am Arbeitsplatz zu erklären.

Es kommt jedoch vor, dass trotz gelebter Loyalität und ausgezeichnetem Engagement ein Schleier aus Ignoranz und Geringschätzung über die Mitarbeiter fällt. Dies betrifft oft jene, die ein Übermaß an Loyalität zeigen, welches zuvor von Vorgesetzten stark gefordert wurde.

 

Die Komplexe Verstrickung verschiedener Faktoren

Die Dynamik am Arbeitsplatz ist komplex und wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Eine Veränderung der Unternehmensstrategie, etwa durch neue Technologien, kann die strategische Ausrichtung beeinflussen und die Wertigkeit einzelner Mitarbeiter verändern. Der Innovationsdruck kann dazu führen, dass Führungskräfte sich neuen Technologien und Talenten zuwenden, wodurch langjährige Mitarbeiter an den Rand gedrängt werden können.

Die Einführung neuer Technologien und Talente kann als Bruch des psychologischen Vertrags wahrgenommen werden, insbesondere wenn dadurch implizite Versprechen wie Sicherheit und Wertschätzung untergraben werden. Veränderte Führung und die Interaktion mit Beratern können die Wahrnehmung bisheriger Leistungen verändern und zu einem Gefühl der Entwertung führen.

Ethik und Vertrauen sind ebenfalls entscheidend. Wenn die ethischen Werte zwischen Unternehmen und Mitarbeitern nicht mehr übereinstimmen, kann dies zu einer Entfremdung führen. Die Mitarbeiterloyalität ist dynamisch und entwickelt sich ständig weiter, sowohl positiv als auch negativ. Eine falsch verstandene oder übermäßige Loyalität kann zu blindem Gehorsam führen, der aus einer ungesunden Beziehung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber resultiert.

Es ist wichtig, diese Faktoren nicht isoliert zu betrachten, da sie oft in Kombination auftreten. Offene Kommunikation und die Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Beteiligten sind entscheidend, um solche Situationen zu bewältigen. Das Konfliktpotenzial eines psychologischen Vertrags liegt in den oft unausgesprochenen Erwartungen und Annahmen, die Missverständnisse und Enttäuschungen fördern können.

Sowohl Veränderungen in einer Organisation als auch die Veränderlichkeit des psychologischen Vertrages können dazu führen, dass ursprüngliche Erwartungen nicht mehr erfüllt werden können oder dass die Organisation sogar will, dass diese nicht mehr erfüllt werden können. Ohne angemessene Kommunikation ist ein Bruch des psychologischen Vertrags kaum zu vermeiden. Daher ist es wichtig, Mechanismen zu etablieren, die eine Anpassung an Veränderungen ermöglichen und gleichzeitig die Integrität des psychologischen Vertrags wahren.

 

Zwei Beispiele Psychologischer Verträge

Abschließend betrachten wir zwei Beispiele psychologischer Verträge: Ein erfolgreiches aus der jüngeren lokalen Gastronomiegeschichte und ein tragisches Desaster von biblischem Ausmaß.

Michel Péclard und Florian Weber haben genaus so eine Art stillschweigender Vereinbarung, die ihre Arbeitsbeziehung prägt. Péclard ist der kreative Kopf, der gerne neue Wege geht und innovative Ideen in die Gastronomie einbringt. Weber hingegen bringt eine pragmatische Herangehensweise mit, die dafür sorgt, dass die Ideen auch umsetzbar bleiben. Ihre Zusammenarbeit basiert offensichtlich auf tiefem gegenseitigen Verständnis und Respekt für die jeweiligen Stärken und Arbeitsweisen. Dieses Gleichgewicht zwischen Kreativität und Pragmatismus macht ihre Partnerschaft erfolgreich und ermöglicht es ihnen, gemeinsam neue gastronomische Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Sie brauchen nicht viele Worte, um zu wissen, was der andere denkt oder erwartet, und genau das macht ihren psychologischen Vertrag aus. Wie tief dieser tatsächlich geht, ist an einer eigentlich eher nebensächlichen Bemerkung Peclards während der Buchpräsentation «der Beizer ohne Geschmack» abzulesen, einer vom Journalisten Christian Gehrig verfasste Biographie Michel Peclards: «Wenn Flo geht, gehe ich auch!»

Am anderen Ende des Spektrums steht die Geschichte von David und Urija, Bibel, Buch 2., Samuel, Kapitel 11. David, der mächtige König, bricht den psychologischen Vertrag mit einem seiner loyalsten Soldaten durch Verrat und Machtmissbrauch. David begehrte Urijas Frau Batseba und zeugte mit ihr ein Kind. Um seine Tat zu vertuschen, schickte er Urija in den Tod. 

Diese biblische Erzählung bietet einen tiefen Einblick in die menschliche Natur und die Komplexität von Beziehungen, einschließlich der Konsequenzen von Entscheidungen und Handlungen. Sie zeigen, dass Themen wie Loyalität und Verrat universell und zeitlos sind und sich durch die gesamte menschliche Geschichte ziehen. 

Und die Geschichte von Damals, zeigt uns heute, dass wir uns mit dem Psychologischen Vertrag auseinandersetzen müssen.