ANSICHTSSACHE: Ohne Leid, aber nicht ohne Tier – wie vegan ist Labor-Fleisch? Eine Betrachtung.
In-vitro-Fleisch verspricht eine Zukunft ohne Schlachtung – doch kann Fleisch aus dem Labor wirklich als vegan gelten? Zwischen technologischer Hoffnung und moralischer Grenzziehung entfaltet sich auch eine ethische Debatte, die den Kern des Veganismus berührt: Geht es um das Vermeiden von Leid oder um die vollständige Ablehnung jeglicher Tiernutzung?
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Text: Romeo Brodmann | Bild: Unsplash, David Foodphototasty
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Die Entwicklung von In-vitro-Fleisch gilt als technologische Revolution: Fleisch, das ohne Schlachtung hergestellt wird, verspricht eine drastische Reduktion von Tierleid und Umweltbelastung. Doch die Frage, ob kultiviertes Fleisch tatsächlich als vegan gelten kann, ist alles andere als eindeutig. Sie berührt grundlegende ethische Prinzipien, insbesondere jene des Anti-Speziesismus (Speziesismus = Diskriminierung von Lebewesen allein aufgrund ihrer Artzugehörigkeit) und der Tiernutzung.
In-vitro-Fleisch entsteht durch die Kultivierung von Muskelstammzellen, die einem lebenden Tier per Biopsie entnommen werden. Diese Zellen werden in einem Nährmedium vermehrt und zu Muskelfasern entwickelt. Zwar muss das Tier dafür nicht sterben, doch es bleibt Teil des Produktionsprozesses – und genau hier beginnt die ethische Debatte.
Die Vegan Society, eine der ältesten und einflussreichsten Organisationen im Bereich des Veganismus, lehnt die Einstufung von Laborfleisch als vegan ab. In ihrer Stellungnahme heisst es:
«Veganismus als Philosophie zielt darauf ab, die Ausbeutung und Grausamkeit gegenüber nichtmenschlichen Tieren zu beenden. [...] Kultiviertes Fleisch ist nicht vegan.» Quelle: vegconomist.de.
Diese Position beruht auf dem Prinzip, dass Tiere nicht als Ressource betrachtet werden dürfen – selbst, wenn ihnen kein direktes Leid zugefügt wird. Die blosse Nutzung tierischer Zellen widerspricht dem ethischen Ideal, Tiere als gleichwertige Lebewesen zu respektieren.
Demgegenüber steht eine pragmatischere Sichtweise, etwa vertreten von der Ethikerin Maria Möller, die sich mit nachhaltiger Ernährung beschäftigt. Sie argumentiert:
«In-vitro-Fleisch könnte ein entscheidender Schritt sein, um das Leid von Milliarden Tieren zu beenden – zumindest in der Massentierhaltung. [...] Natürlich ersetzt kultiviertes Fleisch keine vegane Ernährung, aber als pragmatischer Zwischenschritt könnte es helfen, die Nachfrage nach tierischem Fleisch drastisch zu senken.» Quelle: Vegan.ch.
Diese Perspektive erkennt die ethischen Kompromisse, sieht aber im kultivierten Fleisch eine Brücke zwischen konventioneller Ernährung und einer tierleidfreien Zukunft. Gerade in einer Welt, in der viele Menschen nicht bereit sind, vollständig auf Fleisch zu verzichten, könnte Laborfleisch eine realistische Alternative sein.
Letztlich hängt die Bewertung davon ab, wie man Veganismus definiert: als strenge Ablehnung jeglicher Tiernutzung – oder als dynamisches Konzept, das auch technologische Fortschritte berücksichtigt, sofern sie Tierleid minimieren. Die ethische Frage, ob In-vitro-Fleisch vegan ist, bleibt also offen – und fordert uns heraus, unsere Werte im Licht neuer Möglichkeiten zu reflektieren.
Was ist Vegan und was Vegetarisch? Lesen Sie hier: