BOTANIK | WARENKUNDE: Weshalb das épineux in Cardon argenté épineux de Plainpalais so wichtig ist: Die mit Stacheln schmecken besser.
Von der stacheligen Wildpflanze zum gebleichten Festtagsgemüse: Die Kardone (Cynara cardunculus) ist mehr als nur ein botanischer Vorfahr der Artischocke – sie ist ein stacheliges Relikt mediterraner Kulturgeschichte. Und es verhält sich ein klein wenig wie das europäische Verhältnis mit der Schweiz. Während die Kardonen in Frankreich dornenlos und fade sind, verkörpert die stachelige Genfer Artischocke die Schweiz.
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Text: Romeo Brodmann | Bilder: RB
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Die Kardone gehört zur Familie der Korbblütler (Asteraceae) und ist eng verwandt mit der kultivierten Artischocke (Cynara scolymus). Botanisch betrachtet ist sie die Urform, aus der die Artischocke durch gezielte Selektion hervorging. Ihre Heimat liegt im westlichen Mittelmeerraum, wo sie als mehrjährige, stachelige Staude auf kargen Böden gedeiht.
Art: Cynara cardunculus Verbreitung: Ursprünglich Südeuropa und Nordafrika, heute auch in Südamerika und Australien verwildert. Wuchsform: Bis 1,5 m hoch, mit tief eingeschnittenen, silbrig-grünen Blättern und kräftigen Blattstielen. Blüten: Violett-blau, distelartig, bestäubt von Insekten.
Die Kardone trägt an ihren Blatträndern verholzte Dornen, die sie deutlich von ihrer kultivierten Schwester, der Artischocke, unterscheiden. Diese Stacheln sind evolutionäre Schutzmechanismen gegen Frassfeinde und Trockenstress.
Verholzung: Lignin macht die Dornen hart und durchdringend. Enge Verwandtschaft zur Distel: Die Pflanze zeigt typische Merkmale xerophytischer Anpassung (Strategien gegen Wasserknappheit), z. B. Tiefwurzler, Wasserspeicherung in Stängeln, dicke Blätter mit reduzierter Oberfläche, Behaarung zur Reflexion von Sonnenlicht.
In Frankreich und Italien wurden die Dornen weggezüchtet, nur die Genfer Sorte Cardon argenté épineux de Plainpalais hat sie bewahrt.
Die Kardone ist ein Paradebeispiel für die Grenze zwischen Wildform und Kulturpflanze. Ihre Blattstiele sind fleischig und essbar, aber nur nach sorgfältiger Vorbereitung:
- Bleichen: Die Pflanzen werden vor der Ernte mit Folie oder Erde abgedeckt, um die Bitterstoffe zu reduzieren.
- Enzymatische Bräunung: Beim Schneiden reagieren Polyphenole mit Sauerstoff – ein klassischer Fall von PPO-Aktivität.
- Inhaltsstoffe: Cynarin, Chlorogensäure, Bitterstoffe, Ballaststoffe – medizinisch und kulinarisch relevant.
Bereits die Griechen und Römer verspeisten den stacheligen Kardy. Er gehört zur selben Familie wie die Artischocke, und beide wurden ursprünglich im Mittelmeerraum angebaut.
Die Kardone wurde von den Hugenotten nach Genf gebracht, wo sie zur regionalen Spezialität wurde. Während in jüngerer Zeit Frankreich und Italien auf dornenlose Varianten setzten, bewahrte Genf die stachelige Urform und machte sie zum AOP-geschützten Festtagsgemüse.
Es gibt zahlreiche domestizierte Kardonensorten in Europa. Dornenlos oder stachelig – botanisch handelt es sich um dieselbe Pflanze: die Kulturform der wilden Kardone (Cynara cardunculus).
Schweiz
- Cardon argenté épineux de Plainpalais (Genf), einzige Sorte mit Dornen, AOP-geschützt seit 2003. Traditionelles Weihnachtsgemüse in Genf.
Frankreich
- Cardon de Lyon, dornenlos, sehr verbreitet in der Region Rhône-Alpes. Weiss gebleicht, mild im Geschmack.
- Cardon de Tours, dornenlos, traditionell in der Loire-Region.
- Cardon de Provence, angepasst an wärmeres Klima, dornenlos, mit kräftigen Stielen.
- Cardon de Savoie, regionaltypisch, dornenlos, oft für Gratins verwendet.
Italien
- Cardo gobbo di Nizza Monferrato, wird gebogen und unter Erde gebleicht, «der Bucklige» genannt. Dornenlos, sehr zart, Spezialität im Piemont.
- Cardo di Chieri, dornenlos, traditionell für das Gemeinschaftsgericht Bagna càuda mit Gemüse, Öl und Sardellen.
- Cardo di Bologna, dornenlos, kräftige Stiele.
- Cardo di Sicilia, angepasst an warmes, mediterranes Klima, dornenlos, mit intensiverem Aroma.
Beim Betrachten der Kardonensorten ist das Verhältnis der Schweiz zur Europäischen Union wiederzuerkennen. Die Eigenständigkeit zu bewahren ist oft eine garstige und bisweilen schmerzhafte Angelegenheit. Dafür ist das Innere wesentlich stabiler und besser.
Die Dornen sind ein sensorisches Versprechen. Sie stehen für Wildform, Bitterstoffe und aromatische Tiefe – und machen die Genfer Kardone zu einem Gemüse mit Charakter, nicht nur mit Geschichte.
Mehr Bitterstoffe = mehr Geschmackstiefe Die stachelige Genfer Sorte (Cardon argenté épineux de Plainpalais) enthält mehr Cynarin, Chlorogensäure und andere Polyphenole als ihre dornenlosen Verwandten. Diese Stoffe sind verantwortlich für den leicht bitteren, nussigen, artischockenähnlichen Geschmack, der als «edel herb» beschrieben wird.
Dornen = weniger Züchtungseingriffe: Die Pflanze hat ihre ursprüngliche chemische Ausstattung behalten.
Langsameres Wachstum = dichteres Aroma: Stachelige Sorten wachsen oft langsamer und kompakter, was zu höherer Aromenkonzentration führt. Die Blattstiele sind fester, aber nach dem Bleichen butterzart – ein sensorischer Kontrast, den viele Geniesser schätzen.
Dornenlose Sorten = verwässert: Dornenlose Varianten wurden über Generationen auf Ergiebigkeit und Handhabbarkeit gezüchtet – dabei ging oft Aromatiefe verloren. Die stachelige Genfer Sorte ist weniger domestiziert, was sich im Geschmack widerspiegelt: mehr Wildheit, mehr Charakter.

