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  POLITIK: Die Schweiz und die EU – als Kardone gedacht. Ein soziogastronomisches Manifest über Politik, Stolz und Stielgemüse.

Stell dir vor, die Schweiz ist eine stachelige Kardone. Nicht irgendeine, sondern die Genfer Sorte mit Dornen, AOP-geschützt, widerspenstig, aber von unverwechselbarem Geschmack. Und die EU? Ein riesiges Gemüsebeet mit dornenlosen Sorten – glatt, effizient, genormt und fad.»

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Text: Romeo Brodmann | Bilder: RB, KI
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Die Dornen – Souveränität und Selbstschutz

Genf mag politisch oft proeuropäisch stimmen, doch seine Kardone erzählt eine andere Geschichte. Das stachelige Wintergemüse, AOP-geschützt und nur mit Geduld zu bändigen, verkörpert die Urschweiz in ihrer Eigenständigkeit: wehrhaft, bitter, eigenwillig. Während Genf UNO und WTO beherbergt und Ja zu Europa sagt, liegt zu Weihnachten ein Gratin auf dem Tisch, der Nein zum Einheitsbrei bedeutet. Die Kardone ist Genfs paradoxe Signatur – weltoffen im Denken, garstig in der Handhabung, ein Festtagsgemüse, das die Selbstbehauptung zelebriert.

Die Dornen der Genfer Artischocke sind also mehr als nur botanische Eigenheit – sie sind ein Sinnbild für das Superschweizerische. Wehrhaft und widerspenstig schützen sie das Gemüse vor Zugriff, so wie die Schweiz ihre Eigenständigkeit verteidigt. Während andere Länder glatte, dornenlose Sorten bevorzugen, hält Genf an der stacheligen Variante fest und macht sie zum Festtagsgemüse. Die Dornen stehen für Härte, Eigenart und Landschaftscharakter: Genuss gibt es nur mit Widerstand, und genau darin liegt die schweizerische Signatur.

Die Bitterstoffe – Eigenständigkeit mit Charakter

Wie die stachelige Kardone enthält die Schweiz mehr Bitterstoffe: Selbstbestimmung, Eigenregulierung, direkte Demokratie und sowieso Widerstand gegen dynamische Rechtsübernahme.

In Deutschland, stellvertretend für die EU-Länder, hat die eigene Politik den Bürgern seit Jahrzehnten die Kompetenz abgesprochen, über komplexe Fragen selbst zu entscheiden – mit dem Argument, das Volk sei für «komplizierte Fachthemen» nicht geeignet. Politikwissenschaftliche Gutachten, etwa am Institut für Rechtspolitik in Trier, haben es schwarz auf weiss formuliert: direkte Demokratie sei nur für einfache Fragen denkbar, alles andere müsse den Parlamenten vorbehalten bleiben. Damit wurde die repräsentative Demokratie nicht nur verteidigt, sondern das Volk regelrecht entmündigt. Als Schweizer kann man sich da nur übergeben – denn während in der Schweiz die Bürger über EU-Verträge, Energiefragen oder Rentenreformen abstimmen und damit Verantwortung übernehmen, wird in Deutschland die Bevölkerung wie ein unmündiger Zuschauer behandelt. Das Resultat ist sichtbar: Die Schweiz steht heute mit ihrer direkten Demokratie als selbstbewusster, eigenständiger Staat da, während Deutschland in einem politischen Korsett steckt, das seine Bürger klein hält. Der Kontrast könnte kaum grösser sein – hier die stachelige Kardone, die sich nur mit Mühe zähmen lässt, dort das glattgebügelte Gemüse, das niemandem wehtut, aber auch keinen Charakter hat.

Die Schweiz hat nicht nur, sondern ist die letzte stachelige Kardone Europas. Sie schmeckt intensiver, ist schwieriger zu handhaben, aber sie hat Charakter. Die EU mag effizienter sein – aber ohne die Dornen fehlt die Tiefe.