15.05.2024
Kommunikation: «More social, less media. Please take memories, not pictures». Wie Nobelhart & Schmutzig aus The World’s 50 Best Restaurants die Interaktion zelebriert.
Ein gastronomisches Lehrstück, das man gesehen haben müsste. Nobelhart & Schmutzig in Berlin.
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Text: Romeo Brodmann | Video: Youtube-Link | Bild: MD Fotografie
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Bild: MD Fotografie | Das Schaufenster von Nobelhart & Schmutzig.
Ich hatte freie Bahn zwischen Goldesel und Retourkutsche - so nennen Berliner*innen ihre vergoldete Victoria auf der Siegessäule und die Quadriga auf dem Brandenburger Tor. In Berlin laufen die Vorbereitungen zur Fussball EM. Die dafür gesperrte Strasse des 17. Juni auf diesem knapp drei Kilometer langen Abschnitt entspricht etwa 124’000 Quadratmetern. Da die Fans unmöglich auf dem Asphalt feiern können und die Grüne Annalena Baerbock eine für ihre Louboutins geeignete Unterlage benötigt, wird für diesen einen Anlass die gesamte Fläche mit Kunstrasen aus Plastik ausgelegt, während in Restaurants und Bars wegen dem europäischen Plastik-Trinkhalm-Verbot die Drinks mit Papier-, Glas- oder Metall-Trinkhalmen serviert werden müssen.
Aber gut, ich ging natürlich nicht wegen dieses grünen Unsinns nach Berlin, sondern wegen des Wahnsinns der Kommunikation von Nobelhart & Schmutzig, den Das Pauli Magazin 2021 einst als Lehrstück aufführte. Damals war ihr Schaufenster mit «Who the fuck ist Bocuse» dekoriert. Inzwischen landete das 1-Sterne-Lokal 2022 auf Platz 17., 2023 auf Platz 45. von The World’s 50 Best Restaurants und im April haben sich die beiden Protagonisten Micha Schäfer und Billy Wagner ein neues Menu-und-Preis-Konzept verpasst, auch um die über neun Jahre natürlich gewachsenen Mödeli und Gewohnheiten zu bereinigen. Wagner selbst beschreibt es hier als «weniger fine Dining, mehr casual, es bleibt brutal lokal».
Doch im Grunde ändert sich kaum etwas. Kern ist und bleibt die bewusste, konsequente und total eigene Kommunikation. Die beginnt mit dem «schmutzigen» Schaufenster und einer Klingel. Es wird gewartet, bis man eingelassen und von einer schwarzen Wand empfangen wird. Umso überraschender ist, was dahinter liegt: Ein kompaktes Restaurant, das von einer noblen Theke dominiert wird, welche Küche und Buffet umschliesst und den Kommunikationsprozess auf eine höhere Stufe hebt. Gäste schauen nicht einfach der Küche und dem Service bei der Arbeit zu, sondern auch den anderen Gästen, die immer auch im Blickfeld liegen und die mit Service, Küche und untereinander interagieren.
Es verschmelzen nicht nur Geschmäcker und Aromen, sondern auch die Gespräche der Gäste und Mitarbeitenden in allen Konstellationen. Und alles zusammen wird laufend neu zu neuen Verbindungen verknüpft und in einem einzigartigen Raum zu einem metakognitiven Kommunikations- und Genussprozess verwoben. Es ist sozusagen die kulinarische Kommunikation über die kulinarische Kommunikation.
Das funktioniert auch sehr gut, weil nach aussen hin ein Kanal von der Kommunikation abgehängt wurde und Gäste sich trotz der gegenseitigen Beobachtung unbeobachtet fühlen können. Fotografieren ist verboten, auf dem Menu-Kärtchen steht: «Schön, dass Sie heute mit dabei sind. Das schönste Kompliment, das Sie Ihrem Gegenüber machen können, ist, das Mobiltelefon lautlos zu stellen, und es in der Tasche zu lassen. More social, less media. Please take memories, not pictures.»
Die Küche ist unglaublich einfach gehalten. Konsequent wird nur verarbeitet, was in Berlin und Umgebung gedeiht. Dieses Gesamterlebnis dürfte der Grund sein, weshalb das Nobelhart & Schmutzig unter den 50 besten Restaurants der Welt aufgeführt ist. Der Dirigent dieses Ensembles ist aber wahrlich Billy Wagner und sein Tanz vor den Gästen.
Er frage uns, ob wir ein Glas Sekt möchten, wir verneinen und fragen nach der Weinkarte. Die knallt er uns hin und verschwindet. Die Weine auf über 100 Seiten können für manche schon überfordernd sein. Als er wiederkommt, fragen wir nach seiner Empfehlung, eine Flasche Weissen zwischen 70 und 100 Euro im Stile eines grossen Gewächses, aber etwas Anderes. Okay, ja, zugegeben, das ist eine Herausforderung. Er knurrt irgendwas und haut ab. Schliesslich kommt er mit einer Flasche an, ein 26-jähriger Riesling. Es sei ein Restposten, den sie nach dem Tod des Winzers und der Auflösung des Weingutes aufkauften. 85 Euro. Was er in seiner ganzen Kauzigkeit auftischt, ist ein kleines Wunder und seine Kompetenz seht für uns für immer ausser Frage: 1998 Solist, Ried Steiner Hund, Riesling aus Kremstal, 11.5 Vol%. Reif, tiefe Säurestruktur, leichte Salzigkeit im Abgang. Feine Dörrobst- und Quitten-Noten. Leuchtendes Goldgelb, soweit wir das im schummrigen Licht richtig beurteilen konnten.
Falls Sie sich fragen, ob wir bei Das Pauli Magazin jetzt auch Gastrokritik machen: Nein, tun wir nicht. Es ist vielmehr eine Empfehlung an unsere Leser*innen. In einer Welt, in der den Menschen Lehrgänge in Communication Leadership und Storytelling bis zum totalen Overkill zu überbordeten Preisen um die Ohren gehauen werden, könnte eine Reise an die Wurzel von gelebter Handwerks- und Verständigungskultur nutzvoller und günstiger sein.