Als Reinhard-Laurenz Schmid 1859 im kleinen Bauerndorf Basadingen – am westlichen Zipfel des Kantons Thurgau gelegen – zur Welt kam, zählte die Schweiz 2,4 Millionen Einwohner. «Aus Grossvaters Leben ist nur Bruchstückhaftes überliefert, das meiste kennen wir vom Hörensagen. Anfänglich wollte Reinhard Schmid Hufschmied werden, entschied sich aber dann für das Metzgerhandwerk, obwohl das damals kein Lehrberuf war», schreibt Hubertus Schmid, Jahrgang 1943, Rechtsanwalt in St. Gallen, in seinem profund recherchierten Buch «Metzger, Bauern, Wirte. Eine Spurensuche bei der Familie Schmid in Basadingen.» Schmids berührende Familiengeschichte bildet die Grundlage für diesen Bericht. 

«Vielleicht tat er es, um dem Hunger zu entfliehen»

Weshalb Reinhard Schmid Metzger wurde, ist nicht bekannt. «Vielleicht tat er es, um dem Hunger zu entfliehen, denn die Lebensverhältnisse der Bauern waren in den 1870er-Jahren des 19. Jahrhunderts schlimm. Breite Schichten in unserem Land kannten in jener Zeit in heute kaum mehr vorstellbarem Ausmass materielles Elend», schreibt Hubertus Schmid. Tausende meist junger Menschen sahen keinen anderen Ausweg, als in die Fremde zu ziehen. Ein beliebtes Ziel der Schweizer Wirtschaftsflüchtlinge waren die Vereinigten Staaten. Von 1881 bis 1890 wanderten denn auch über 90'000 Schweizer aus, nicht nur nach Amerika, sondern auch nach Deutschland, Italien und Russland. 

«So muss», schreibt Schmid, «denn in den 1880er-Jahren auch bei Grossvater Reinhard der Entscheid gereift sein, dem Thurgau den Rücken zu kehren. Er suchte allerdings sein Glück nicht in den USA, sondern Im Churer Rheintal.» Im Alter von 25 Jahren liess er sich 1884 in Chur nieder. «Seine Beweggründe kennen wir nicht, wir können nur Vermutungen anstellen.» Fakt ist: 1858 wurde mit der Strecke von Bad Ragaz nach Chur das Bündnerland ans Schweizer Bahnnetz angebunden. 1889 folgte die Schmalspurbahn von Landquart nach Davos. Aus dieser Pionierbahn ging 1894 die Rhätische Bahn (RhB) hervor, die sich später zum massgeschneiderten Verkehrsträger und zugleich zum grössten Arbeitgeber im Kanton Graubünden entwickelte. So schufen der Eisenbahnbau im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, aber auch die 1903 eröffnete Albulastrecke der Rhätischen Bahn die Voraussetzungen für die aufkommende Fremdenverkehrsindustrie, sie verkürzte die Reisezeit von Chur nach St. Moritz von 14 auf zwei Stunden. Erst der starke Ausbau des Eisenbahnnetzes im Kanton Graubünden ermöglichte die Einführung der Wintersaison und war Auslöser des Hotelbau-Booms im Engadin durch gewiefte Kaufleute und Persönlichkeiten mit Begeisterungsfähigkeit und Mut. Die Erfahrungen und die finanziellen Mittel stammten oft aus den florierenden europäischen Städten (Venedig, Genua, Barcelona, Budapest etc.), in denen die Engadiner als Chocolatiers, Patissiers, Kaffeehausbesitzer, Likörfabrikanten und Bierbrauer das Savoir-vivre einer Grossstadt kennen und schätzen gelernt hatten. Der Eisenbahn- und Hotelbau brachten dem einheimischen Bau-, Transport- und Gastgewerbe viel Beschäftigung, machte aber auch die Zuwanderung Tausender tüchtiger deutscher Handwerker nötig. Es waren im Jahr 1910 deren 219'530 in der Schweiz oder 5,8 Prozent der Bevölkerung. Und alle diese Arbeiter wollten verpflegt und bewirtet werden. So wurden in der Zeit von 1880 bis 1914 Städte wie Chur, St. Gallen (Stickereiindustrie), Luzern (Fremdenverkehr) und Zürich (Maschinenindustrie, Handel) nicht nur für Handwerker, sondern auch für junge Metzger, Bäcker, Köche etc. sehr attraktiv. Die Söhne von Reinhard Schmid sollten es dereinst nutzen. Den Gewerbetreibenden und Handwerkern in der Stadt Chur kam diese wirtschaftliche Entwicklung besonders zustatten. Für Reinhard Schmid bestanden hier ungleich bessere Erwerbschancen als im Thurgau. Seine erste Station in Chur war Metzgermeister Eisinger, wo er als einfacher Metzgerbursche wirkte. Doch schon 1888 machte er sich selbstständig und eröffnete in der Planaterra am Untertor von Chur sein eigenes Geschäft. Diesen Schritt wagte er aber erst, als ihm seine Verlobte, die aus einem Wirtshaus in Ossingen im Zürcher Weinland stammende Hermine Müller, die er 1887 heiratete, nach Chur gefolgt war. 

Erste gewerbliche Hersteller von Bündnerfleisch

Reinhard Schmid muss ein interessierter und neugieriger Berufsmann gewesen sein. Er besuchte 1900 die Weltausstellung in Paris, ging regelmässig auf den Viehmarkt nach Ulm (Baden-Württemberg) und schaute sich dort um, was die Deutschen feilboten. Hubertus Schmid: «Gegen das Ende des 19. Jahrhunderts hatte er als Erster seines Fachs im Kanton Graubünden begonnen, gewerbemässig Bündnerfleisch herzustellen und im eigenen Laden zu verkaufen.»

Alles begann in Parpan

Alles begann beim Bauern Engelhard Brügger in Parpan, der schon seit längerem für andere Landwirte Wild und billiges Schweinefleisch auf der offenen, vor Regen schützenden Dachterrasse seines Hauses trocknete. Das Produkt wurde ursprünglich Bindenfleisch geheissen. Seinen Namen bekam es von den Tüchern, in denen es an die Luft gehängt wurde. Rindfleisch kam deshalb dafür nicht in Frage, weil Kühe als Milchlieferanten und Zugtiere zu wertvoll waren, als dass man sie einfach so hätte schlachten mögen. Das Austrocknen und die bakterizide Wirkung der Sonne ermöglichten eine lange Haltbarkeit des Fleisches. In Parpan waren die Voraussetzungen zur Herstellung von Trockenfleisch ideal; dank seiner Nord-Süd-Öffnung ist das Tal für die natürliche Lufttrocknung geradezu prädestiniert. Schmid: «1892 erhielt der Bauer Engelhard Brügger Besuch von unserem Grossvater aus Chur, der bei ihm getrocknetes Fleisch vom Rind zu kaufen begehrte.» Brügger lehnte ab; das Risiko, auf eigene Rechnung teures Rindfleisch zu trocknen, sei für ihn zu gross. «Eine Woche nach dem abschlägigen Bescheid rückte Grossvater wieder in Parpan an; diesmal aber mit 50 Kilo gutem Kuhfleisch (Spälte) im Gepäck. Nach heutigem Gegenwert wären dafür rund 3'000 Franken zu bezahlen», meint Schmid. Engelhart Brügger wurde angehalten, auf Schmids Rechnung Rindfleisch zu trocknen. Weil die Nachfrage der Churer nach Bindefleisch rasch zunahm, wurde Brügger bald einmal zu Schmids hauptberuflichem Lohn-Trockner und Mitbegründer der professionellen Fleischtrocknerei. So entstand zu Ende des 19. Jahrhunderts erstmals ein Markt für Bündnerfleisch, während es früher von den Bauern lediglich zum reinen Selbstgebrauch hergestellt worden war. So bemächtigten sich die Metzger dieses Geschäftes. Der Möbelschreiner Leonhard Brügger blieb dem Beruf seines Vaters Engelhard treu, gründete aber 1924 an der Hauptstrasse nach Churwalden eine eigene Fleischtrocknerei, die bis 1963 ausschliesslich für Schmids Söhne, die Metzger Reinhard in Chur, Eugen in Luzern und Paul in St. Gallen sowie Luzi Schmid in Weinfelden tätig war. Vor über 50 Jahren übernahm Jörg Brügger (1934-2004) den Betrieb. Die vor 128 Jahren begonnene Tradition führen Jörg und Marlène Brügger heute in vierter Generation mit viel Wissen und Sorgfalt weiter.

Gelungene Kooperation

Zwei Diplome dokumentieren den Erfolg von Reinhard-Laurenz Schmid. An der Bündnerischen Industrie- und Gewerbeausstellung im Jahre 1913 in Chur wurde Schmid mit dem «Diplom 1. Klasse: Goldene Medaille. Spezialität luftgetrocknetes Bündnerfleisch und Rohschinken» ausgezeichnet. Ein Jahr später erhielt Reinhard Schmid an der Schweizerischen Landesausstellung in Bern 1914, die «Silberne Medaille in 9. Gruppe Nahrung- und Genussmittel.» Goldmedaillen wurden damals noch nicht vergeben. Die gekonnte Trocknung und der gewerbsmässige Verkauf von Bindenfleisch waren Beispiel einer gelungenen Kooperation zwischen Produzent und Handel. Die vier Söhne von Reinhard-Laurenz Schmid sollten später ermuntert werden, weitere Bündnerspezialitäten wie Rohschinken, Coppa, Salsize, Beinwurst und Engadiner Hauswurst herzustellen und in ihren Geschäften in Chur, Luzern, St. Gallen und Weinfelden zu verkaufen. Sie alle setzten auf die Marke «Bündnerspezialitäten».

Dazu eine Anmerkung aus dem medizinischen Bereich: Das Engadin hat mit Oscar Bernhard (1861–1939) einen grossen Mediziner hervorgebracht. Der Alpenarzt aus Samedan GR begründete auch seine Sonnenlichttherapie. Die Idee dazu holte er sich bei der Trockenfleischherstellung: Das Austrocknen und die bakterizide Wirkung der Sonne ermöglichen die lange Haltbarkeit von Bündnerfleisch. Dieses Prinzip funktionierte auch beim Menschen. «Nach einem ersten Versuch bei einer infizierten und schlecht heilenden Bauchwunde behandelte Bernhard mit Sonnenlicht auch Patienten mit Fisteln, tuberkulösen Geschwüren und – nach Erfolgen bei Letzteren – schliesslich sogar die geschlossene Knochentuberkulose», berichtete die NZZ 2011. 

Was echtes Bündnerfleisch ausmacht

«Für echtes Bündnerfleisch», sagt Fleischveredler Jörg Brügger (56) bei einem Besuch in Parpan, «werden nur erstklassige Fleischstücke vom Rind verwendet. Nach sorgfältigem Entfernen von Fett und Sehnen werden die Rohbinden mit einer Mischung aus Salz und Bio-Gewürzen eingerieben und in grossen Behältern zwischen einer und drei Wochen kühl gelagert.» Nach dieser sogenannten Pökelung wird das Fleisch zunächst an der frischen Luft auf dem Balkon während einer Woche angetrocknet. Danach kommen die Fleischstücke in die Trocknungsräume. Die Luftfeuchtigkeit wird hier mit dem Öffnen oder Schliessen der Fenster reguliert. Die leicht angetrockneten Fleischstücke werden anschliessend in regelmässigen Abständen dreimal gepresst. Dies bewirkt einerseits eine gleichmässige Verteilung der im Fleisch vorhandenen Flüssigkeit und verleiht dem Bündnerfleisch ausserdem die charakteristische Form. In den rund 10 bis 20 Wochen Trocknungszeit wird jedes Fleischstück etwa 60 bis 70 mal in die Hand genommen, kontrolliert und bearbeitet – ein arbeitsaufwendiger Prozess. Der Gewichtsverlust während des Trocknens beträgt rund 50 Prozent. Der Name «Bündnerfleisch» ist geschützt. Er garantiert, dass das Fleisch in Graubünden veredelt wird. Als einer der letzten stellt Jörg Brügger in Parpan diese Spezialität noch im traditionellen naturluftgetrockneten Verfahren her. Werbung muss Jörg Brügger keine machen. «Wir verkaufen die ganze Jahresproduktion.» Brügger beliefert rund 60 der besten Gastronomiebetriebe, Spitzenköche und Metzgereien in der Schweiz. Dazu gehört auch weiterhin die «Hirschen-Metzgerei Schmid» von Silvia Berliat-Schmid in Weinfelden.

Autor Urs Oskar Keller ist freier Journalist. Er lebt in Landschlacht am Bodensee.

Literatur Hubertus Schmid: «Metzger, Bauern, Gastwirte. Eine Spurensuche bei der Familie Schmid von Basadingen.» St. Gallen: Eigenverlag H. Schmid, 2013. Bilddokumentation: Luzi Schmid, Uhwiesen. Herstellung: Wolfau-Druck AG, Weinfelden. 139 Seiten mit zahlreichen Abbildungen. Privatdruck. Das Buch ist nicht im Handel erhältlich.